Man könnte ja schon wieder depressiv werden. Negativ, motzend, verzweifelt. Gerade wir Deutschen, wir können ja eh nichts anderes, als schlecht drauf zu sein. Sagt man immer so.
Ich glaube es nicht. Und keiner kann es glauben, der mit offenen Augen durch die Städte geht. Beispiel: Konstanz, Freitag vor einer Woche. Alles hier eh schon immer teuer gewesen, jetzt noch mehr.
Sind die Kneipen leer, Bars verödet, Restaurantküchen erkaltet? Von wegen. Ein Gedränge. Weinstuben voll, nicht nur innen, auch außen ist noch der letzte Platz belegt, Ende Oktober! Auf keinem Gesicht sieht man eine Krise, nur Freude und na ja, Promille.
Moment mal. Müssten die nicht alle frierend daheim sitzend, in banger Erwartung der Gasrechnung? Und müsste man sich denn nicht aus Solidarität mit den wirklich Bedürftigen zurückhalten? Nein. Letztere hätten dadurch auch nicht mehr Geld. Und dass Ersteres nicht der Fall ist, zeigt eben doch: Eine flächendeckende Verarmung findet derzeit nicht statt.
Stadien, Freizeitparks, Bäder – wer zuletzt einmal in solchen Einrichtungen war, wird sich schon gedacht haben: So schlecht kann es uns ja nicht gehen, bei dem Gedränge, das hier herrscht. Wenn wir so tun, als ob plötzlich halb Deutschland auf Almosen angewiesen sei, auf Staatshilfen hier und Steuererleichterungen da, verkennen wir die überall stattfindende Wahrheit. Und schaden denen, die die Hilfe wirklich brauchen.
Zwei Erkenntnisse
Woher kommt also die neue deutsche Lebenslust? Aus der Corona-Erkenntnis: Was heute noch selbstverständlich ist, kann morgen schon vorbei sein – genießen wir es, solange es geht? Oder aus der Inflationserkenntnis: Morgen ist das Geld noch weniger wert, geben wir es heute aus, solange wir noch was dafür kriegen? Wahrscheinlich beides. Und nichts daran ist falsch.
Ohne Beispiel ist diese Reaktion übrigens nicht. Über die Zeit der Hyperinflation 1923 schrieb Stefan Zweig etwa in seinem stets empfehlenswerten Jahrhundertbuch „Die Welt von Gestern“, dass er selbst nicht so recht wisse, wie damals eigentlich jeder so durchgekommen sei, geklappt habe es aber irgendwie.
Auch er schildert die irritierende Wirkung der – damals noch deutlich heftigeren – Krise: „Durch das Unerwartete, dass das einstmals Stabilste, das Geld, täglich an Wert verlor, schätzten die Menschen die wirklichen Werte des Lebens – Arbeit, Liebe, Freundschaft, Kunst und Natur – umso höher, und das ganze Volk lebte inmitten der Katastrophe intensiver und gespannter denn je.“ Nie habe er den Willen zum Leben so stark empfunden wie damals. Na, wenn das nichts ist.