Glücklich macht uns die Wissenschaft schon längst nicht mehr. Zwar produzieren unsere Schulen immer mehr Abiturienten und die Universitäten sind überfüllt. Die Lebenszufriedenheit der Deutschen aber stagniert schon seit den frühen 1970er-Jahren.

Fortschritt richtet Klima zugrunde

Im Gegenteil erleben wir, wie wissenschaftliche Errungenschaften in vielen Bereichen unser Leben erschweren, statt es zu verbessern. Die Digitalisierung fordert ständige Erreichbarkeit. Der Verkehr richtet das Klima zugrunde. Und der medizinische Fortschritt stellt uns vor ethische Probleme wie Sterbehilfe und Frühdiagnostik.

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Friedrich Dürrenmatt (1921-1990), der große Schweizer Dramatiker, hatte eine klare Vorstellung davon, auf welchen Tag der Moment zu datieren sei, an dem die Wissenschaft vom segensreichen Dienst an der Menschheit in ihr Gegenteil kippte: Es war der Tag, an dem Albert Einstein sich genötigt sah, der US-Regierung den Bau einer Atombombe zu empfehlen. Physiker weltweit wussten um die todbringende Gefahr ihres Wissens. Doch vermochten sie es nicht, seine Verbreitung zu stoppen.

Erkenntnis und Verantwortung

Für das Dilemma von wissenschaftlicher Erkenntnis einerseits und ethischer Verantwortung andererseits hat Dürrenmatt eine groteske Versuchsanordnung erfunden. Seine Komödie „Die Physiker“, die jetzt am Stuttgarter Schauspielhaus zu erleben ist, handelt von drei Wissenschaftlern in einer Nervenheilanstalt. Einer hält sich für Isaac Newton, ein anderer für Albert Einstein. Nur ein dritter – Johann Wilhelm Möbius – hält sich für sich selbst. Dafür glaubt er, die Stimme von König Salomo zu hören. Ein wunderliches Trio.

Von links nach rechts: Klaus Rodewald (Einstein), Marco Massafra (Möbius) und Benjamin Pauquet (Newton).
Von links nach rechts: Klaus Rodewald (Einstein), Marco Massafra (Möbius) und Benjamin Pauquet (Newton). | Bild: Thomas Aurin

Bald zeigt sich: Wunderlich sind nicht die drei, sondern die Welt um sie herum. Möbius täuscht den Wahnsinn vor, um Ruhe zu haben von den Geheimdiensten, die von seinen Erkenntnissen für den Bombenbau profitieren wollen. Newton und Einstein dagegen heißen in Wahrheit Kilton und Eisler. Sie sind ebenfalls Physiker, die ihrem Kollegen im Auftrag genau dieser Geheimdienste bis ins Sanatorium nachspionieren.

Zu klein für große Geister

Für Cilli Drexels Inszenierung hat Bühnenbildnerin Judith Oswald einen Raum gebaut, der sich als zu klein für die darin wohnenden großen Geister erweist. Bei ihren Auftritten müssen sie Acht geben, sich nicht den Schädel am Türrahmen zu stoßen. Boden, Wände, Mobiliar: Alles ist schräg und verzerrt, eine buchstäblich verrückte Welt.

Möbius (Marco Massafra, links) und Newton (Benjamin Pauquet).
Möbius (Marco Massafra, links) und Newton (Benjamin Pauquet). | Bild: Thomas Aurin

Die Sanatoriums-Chefin Doktor Mathilde von Zahnd (Marietta Meguid) ist eine verklemmte alte Jungfer. Marco Massafra gibt zu ihr als junger, attraktiver Möbius den skurrilen Gegenentwurf. Diesem beherrschten, blitzgescheiten Mann möchte man seine vorgespielte Verwirrtheit so gar nicht abnehmen: Kein Wunder, dass seine Betreuerin, die Krankenschwester Monika Stettler (Amina Merai), ihm auf die Schliche kommt – eine Entdeckung, die sie mit dem Leben bezahlen muss.

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Dürrenmatts Versuchsanordnung ist so grotesk, dass es nicht der schlechteste Regieansatz sein mag, das Stück ganz auf Klamauk hin zu inszenieren. Drexel lässt den Pseudo-Einstein Eisler (Klaus Rodewald) unbeholfen auf der Geige kratzen und den Möchtegern-Newton Kilton (Benjamin Pauquet) den Weinbrand aus der Wärmeflasche trinken.

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Das alles ist pointensicher und macht gute Laune. Allein die Idee für eine Alternative zur Wissensgesellschaft mag man vermissen. Am Ende überlässt es Möbius der Stimme König Salomos, das Problem auf den Punkt zu bringen: Erst, sagt er, habe die Weisheit seine Gottesfurcht zerstört. „Und als ich Gott nicht mehr fürchtete, zerstörte die Weisheit meinen Reichtum.“ Braucht der Mensch also wieder mehr Gottesfurcht? Viel wäre schon gewonnen, wenn er sich selbst nicht mehr so wichtig nähme.

Kommende Vorstellungen heute sowie am 2., 11. und 15. Juli. Weitere Informationen auf http://www.schauspielstuttgart.de