Macht ist schön, aber anstrengend. Umso rätselhafter erscheint, wie unverdrossen Kanzler und Präsidenten an ihr hängen. Bundeskanzlerin Angela Merkels Kandidatur 2017: Hatte sie nach zwölf Jahren an der Spitze, öffentlich beschimpft und beleidigt, denn noch immer nicht genug vom Konferenzmarathon? Helmut Kohl 1998: Musste er es wirklich noch ein weiteres Mal allen zeigen? Und was trieb Konrad Adenauer an, noch mit 87 Jahren so verbissen um seine Macht zu kämpfen?
Anerkennung allein kann es nicht sein. Ist doch vielen der Eintrag ins Geschichtsbuch längst gewiss und überdies der Nachruhm meist größer als die Achtung während der Amtszeit. Und so sucht der einfache Bürger, froh über sein beschauliches Rentnerdasein, ratlos nach Spuren einer Erklärung.
Blick hinter die Kulissen
Doch im grellen Licht der Öffentlichkeit wird er sie kaum finden. Dazu bedarf es schon eines Blicks hinter die Kulissen, dorthin, wo die vermeintlich unverletzlichen Alphatiere ihre dunklen Momente offenbaren: gegenüber Ehepartnern, engen Vertrauten, dem eigenen Ich.
Die niederländische Autorin Lot Vekemans zeigt uns diesen Ort. „Momentum“ heißt ihr neues Stück, das jetzt am Theater Konstanz zu sehen ist. Der fiktive Präsident Meinrad Hofmann (Ralf Beckord) regiert darin mit seiner fiktiven Partei ein fiktives Land. Sein Programm, ob es sozialistisch ist oder konservativ, liberal oder grün, spielt keine Rolle: Nichts soll ablenken vom reinen Mechanismus des Machterhalts.
Das Wohnzimmer, groß mit roten Vorhängen und Kronleuchter, ist mehr ein Palast denn eine traute Heimstatt (Bühne und Regie: Claudia Meyer). In ihm erleben wir den Spitzenpolitiker als weinendes, Pillen schluckendes, haderndes Männlein. „Ich bin müde!“, ruft es. „So müde!“ Und: „Warum steigen wir nicht einfach aus? Das wäre eine Erleichterung!“
Doch „wir“ können eben nicht einfach aussteigen. Denn zu „wir“ gehört Ehefrau Ebba (Renate Winkler). Und die hat sich ihr Leben lang in den Dienst ihres Gatten gestellt, so sieht sie das jedenfalls. „Sag mir nicht, dass die Opfer, die ich gebracht habe, umsonst gewesen sind!“, ruft sie. Auch sein Berater Dieter (Ingo Biermann) gehört zu „wir“. Er versichert: „Wir stehen hier alle parat, um dir zu helfen!“
Zwischen Druck und Motivation
Aber wer hilft hier wem? Der starke Mann zumindest erinnert hier an ein gehetztes Reh: gejagt von Frau und Berater. Abwechselnd feuern sie ihn an, mal mit erzieherischem Druck („‚Kann ich nicht‘ liegt auf dem Friedhof und ‚Will ich nicht‘ liegt gleich daneben!“), mal mit nostalgischer Schwärmerei („Denk‘ doch nur an unsere Ideale, für die wir gekämpft haben!“).
Nur einer macht nicht mit: der junge Dichter Ekram (Thomas Fritz Jung). Was ihm an Menschen mit Idealen auffalle, sagt er, das sei ihre ständige Wut. Für ihn sei das nichts. Er wolle nicht die Welt verändern, lieber „einfach nur existieren“. Aber deshalb hat so ein Dichter auch keine Macht.

Und Meinrad Hofmann selbst? Ist er wirklich nur ein Getriebener? Im zermürbenden System der Demokratie, sagt er, müsse jeder Politiker seine hehren Ziele schon bald aufgeben. Ideale? Dass er nicht lache. „Ich sehne mich manchmal wieder nach ihnen“, sagt er.
So gibt sich hier doch auch ein persönliches Motiv für diesen sinnlosen Kampf um Macht zu erkennen: Es ist die Hoffnung, vielleicht wenigstens noch eines der ursprünglichen Ziele verwirklichen zu können.
Plausibel, aber voller Klischees
Lot Vekemans’ Studie über die Macht erscheint so plausibel, dass sie oft klischeehaft wirkt. Die Ehefrau als überehrgeizige Antreiberin, das kennen wir schon von Shakespeares „Macbeth“, ansatzweise auch aus Schillers „Fiesco“.
Und klassische Mutter-Sohn-Mythen wie die „Orestie“ und „Ödipus“ stehen Pate, wenn ihr bei wiederkehrenden Visionen der einst als Fehlgeburt verlorene Sohn DuK (Dan Glazer) ins Gewissen redet. Von einer Autorin, der wir mit „Gift“ und „Judas“ bereits große Theaterliteratur verdanken, hätte man mehr Originalität erwartet.

Großartige Schauspieler aber und eine schlüssige Regie retten diesen Abend. Ralf Beckord entlarvt die cholerischen Ausfälle seiner Figur als Schutzmechanismus einer geschundenen Seele. Renate Winkler lässt in Ebbas Gespräch mit ihrem ungeborenen Sohn das Leiden an der Einmaligkeit unseres Lebens spürbar werden. Und Ingo Biermann offenbart in seiner Rolle als Berater, welche Position in der Machthierarchie die angenehmste ist.
Falsch liegt, wer sie ganz oben vermutet – also dort, wo ein Berg an Verantwortung und Erwartungen auf einem lastet. Besser lebt es sich knapp darunter: als Jäger statt als Gejagter.
Weitere Vorstellungen von „Momentum“ am Stadttheater Konstanz gibt es am 19., 21. und 26. Februar 2019 sowie am 2., 6., 7., 8. und 10. März. Informationen zum Stück finden sie hier.