Elisabeth Schwind und Johannes Bruggaier

Auch große Solisten erwischen mal einen schlechten Tag. Durchstöbert man allerdings die Videoplattform YouTube, so muss man schon froh sein, mal auf einen guten zu stoßen. Immer mehr Filme nämlich zeugen von Desastern auf Konzertbühnen. Der große Vladimir Horowitz etwa mit Chopins Klavierkonzert: jeder zweite Ton daneben. Tastenlöwe Lang Lang verzweifelt schon an Schumanns „Träumerei“. Und in der Interpretation von Martha Argerich klingt Tschaikowskis Klavierkonzert ganz fürchterlich. Was ist da los?

Ganz einfach: Über Jahre hinweg haben Spaßvögel bei den historischen Bild-und-Ton-Aufnahmen die Ton-Aufnahme ausgetauscht. Das Ergebnis sind Star-Geiger und Klavier-Virtuosen mit ihren gewohnt sphärisch entrückten Mienen – allerdings zu Klängen, die so gar nicht zur äußerlich bekundeten Spielfreude passen wollen. Darf man das? Eigentlich nicht. Einem Berliner Konzertdramaturgen ist so ein Scherz jetzt zum Verhängnis geworden. Der britische Geiger Daniel Hope nämlich mochte über seine vermeintlichen Fehlleistungen nicht lachen und schickte dem freien Mitarbeiter des Berliner Konzerthauses seinen Anwalt auf den Hals. Der Dramaturg muss nun nicht nur dessen Honorar zahlen, er verliert auch seinen Job. Beleidigte Klassik-Stars können unerbittlich sein.

Und doch: Nicht alle gehen zum Lachen in den Keller. Wir stellen Ihnen die amüsantesten Internet-Videos vor:

  • Der große Hornlehrer Erich Penzel, einst selbst Solo-Hornist des WDR-Sinfonieorchesters, pflegt seine Schüler mit dem Vorwurf zu traktieren, sie mögen doch bitte „nicht so hupen“. So mancher seiner Zöglinge hat sich schon gefragt: Was zum Kuckuck meint er nur damit? In seinem Video liefert Radek Baborak mit Mozarts Hornkonzert Nr. 1 in D-Dur scheinbar die Antwort. Federleicht und beschwingt intonieren die Berliner Philharmoniker das Vorspiel. Der Solist wiegt sich in ihrem Takt, fühlt sich hinein in das von Maestro Daniel Barenboim vorgegebene Tempo. Dann hebt er sein Instrument, spitzt die Lippen, schließt die Augen und: Hup huuup! Hup huuuup! Hup huuuuuup!

 

  • Kleiner Ausflug in die Philosophie: „Natur“, sagt Pinchas Zukerman und blickt bedeutungsschwer auf seine Geige, sei „die Essenz von allem“. Man denke nur an die Sonne, das Licht, die Luft. Oder auch: das Holz. Gäbe es Feuer ohne Holz? Wäre uns warm ohne Feuer? Mehr noch: Verdanken wir ihm, dem Holz, nicht den wärmenden Klang einer Geige? Diese „enorme Bereicherung des Lebens“? Gott sei Dank, so schließt der Virtuose seinen Vortrag, habe es Menschen wie Antonio Stradivari gegeben.
    Und mit ihnen Geigen wie diese, die uns diese „enorme Bereicherung“ ermöglichen! Er hebt das Millionen teure Instrument ans Kinn, holt tief Luft, der Bogen fällt auf die Saiten: Kratsch! Quieeetsch! Krrrrraaaaattschsch! Zukerman lässt die Geiger wieder sinken, blickt selig lächelnd in die Kamera und sagt: „Beautiful!“

 

  • Die Schwierigkeit an der weltberühmten Trompeten-Fanfare von Richard Strauss’ „Also sprach Zarathustra“ (Sie wissen schon, die aus der Warsteiner-Werbung: „Taaa, taaa, taaa!“ Und dann alle: „Tammtaaa!“) besteht ja nicht in den Tönen selbst. Sie liegt in der Tatsache begründet, dass diese Töne von vier Trompetern gleichzeitig getroffen werden müssen. Idealerweise gleichzeitig. Noch besser: Mit derselben sauberen Artikulation. Bei der legendären Londoner „Last Night of the Proms funktioniert schon Letzteres nur halb: „Pfaaa …“ Au weia. Doch dann kommt’s schlimmer: Da hat doch einer den Einsatz verpasst? Da findet doch noch einer den Ton nicht? Also sprach Richard Strauss: „Aufhören!“

 

  • Es stimmt scheinbar alles in dieser raren, verloren geglaubten Aufnahme, von der es heißt, es sei der 66. Anlauf zu der legendären 1982er-Einspielung von Bachs „Goldberg-Variationen“ von Glenn Gould gewesen. So viele Anläufe waren wohl nötig, bis sich Perfektionist Gould mit dem Ergebnis zufrieden gab. Die Kamera zoomt sich langsam an den Pianisten heran, da hört man Gould bereits die Aria ins Mikro summen. Ja, so war er. Unverkennbar und genial, schon das Summen. Die Aria nimmt er langsam, fast absurd langsam, aber Glenn Gould darf das. Wie er die Töne auf den Tasten sucht, dabei förmlich in den Flügel hineinkriecht – nur einem wahren Meister nimmt man das ab. Ups, da geht ihm dann doch ein Ton daneben. Aber nur um einen Halbton. Das ist ja nicht viel. Und es war vier Uhr nachts, da kann das passieren. Dann geht es allerdings ein bisschen mit Gould durch. Doch nicht erschrecken. Man bedenke, er verstand sich weniger als Interpret denn als nachschöpfender Komponist. Also ist das, was hier etwas schräg zu klingen scheint, eine kreative Anverwandlung von Bachs Musik, gleichsam eine Übersetzung der barocken Klänge in die Gegenwart. Bier, Valium und Medikamente sollen das ihre zu der bewusstseinserweiternden Wirkung beigetragen haben. Erst sie machten dieses Resultat so richtig möglich. Oder vielleicht doch den 67. Anlauf notwendig?

 

  • Feierlicher Ernst spiegelt sich auf dem Gesicht des Dirigenten Zubin Mehta. Er hebt den Stock. Das Orchester setzt zum Winter aus Vivaldis „Vier Jahreszeiten“ an. Glasklare Akkorde wie gefrorene Tropfen. So muss es klingen. Zumal wenn gleich Itzhak Perlman einsetzt. Der israelische Geiger hat sich mit seiner virtuosen Technik und dem klangschönen Ton in die Herzen der Zuhörer gespielt. Schon hat er die Geige zum ersten Solo angesetzt. Wir wissen, Perlman liebt die Effekte. Womit er sein Publikum wohl dieses Mal überrascht? Oh Schreck, mit Kratzen und Beißen. Ein kalter Winter. Und er nimmt kein Ende. Die Intonation schlittert, die Saiten klingen wie verharschter Schnee. Dabei verzieht Perlman das Gesicht, als bliese ihm der schärfste aller Winde in die Augen. Er muss sich sichtbar konzentrieren, damit ihm nicht das komplette Stück wegrutscht. Geschafft. Perlman sieht zufrieden aus. Zubin Mehta ein bisschen betroffen. Das Publikum jubelt. Geht doch.

 

  • Keith Jarrett ist ja auch so ein Pianist, der es an genialer Verrücktheit mit Glenn Gould locker aufnehmen kann. Was Gould für Bach war, ist Jarrett für den Jazz. Seine Konzerte sind stundenlange Versenkungen, Inspirationsflüsse, von deren Werden und Vergehen der Zuhörer ehrfürchtiger Zeuge werden darf – sofern er nicht hustet. Die Atmosphäre ist entsprechend angespannt, als sich Keith Jarrett ans Klavier setzt. Er greift nochmal zum Handtuch. Dann Blick nach oben, die Inspiration fließt, die ersten Töne klingen: Der „Flohwalzer“! Das Stück also, das all diejenigen spielen, die nie Klavierspielen gelernt haben. Keith Jarretts verzückten Gesichtsausdruck dazu sollte man sich nicht entgehen lassen. Und bald schon stimmen Gary Peacock (Bass) und Jack DeJohnette (Schlagzeug) ein und zerlegen das Stück nach allen Regeln der intellektuellen Jazz-Kunst. Es folgen der „Entertainer“ und „Für Elise“. Keith Jarrett spielt sich förmlich in Ekstase, das Publikum rast. Eine Sternstunde.

 

Das Internet-Phänomen

Die hier beschriebenen Filme sind sogenannte Shred-Videos. Als deren Erfinder gilt der YouTuber „StSanders“, der 2007 die ersten Musik-Videos von Bands hochlud und dabei den Originalton gegen selbst eingespielte Aufnahmen austauschte. Das englische Substantiv shred bedeutet dabei so viel wie Fetzen oder Schnipsel, das Verb shred zerfetzen oder zerreißen. In den so erst auseinandergenommenen und dann wieder zusammengesetzten Videos sind es oft nur leichte Verstimmungen, die aufhorchen lassen – allein durch Zuhören wird nicht immer klar, ob die Videos echt sind oder nicht.