Warum werden Menschen zu Kannibalen? Das Phänomen mag selten sein, kommt aber de facto immer wieder vor. Heute und in unserer Gesellschaft. Sie hießen Armin M. oder Ralf H. und träumten davon, von anderen geschlachtet und gebraten zu werden oder selbst jemanden zu verspeisen. Die Psychologie spricht von einer seltenen Art perverser Sexualität – im Grunde eine übersteigerte Form des Sado-Masochismus.

Demnach würde sich der Kannibalismus einer tiefen sexuellen Begierde verdanken. Die ist zwar mit einem gesellschaftlichen Tabu belegt, bahnt sich aber hier und da immer mal ihren Weg nach außen. Der Soziologe Wolfgang Sofsky deutet den Kannibalismus hingegen als Umkehrung der Urangst vor dem Gefressenwerden: „Die Angst umkehren zu können ist die höchste Macht, die man erreichen kann.“

Angst des Gefressenwerdens

Ob Urangst oder aggressive Sexualfantasie – schaut man genauer hin, sind unsere Märchen und literarischen Geschichten voll von Menschenfresserei. Hänsel wird von der Hexe für ein üppiges Mahl gemästet. Die böse Königin will die Eingeweide von Schneewittchen zum Essen vorgesetzt bekommen. Indem sie den Kannibalismus an das Böse knüpfen, weisen die Märchen das Phänomen in seine Schranken.

Das Thema ist aber auch heute noch sehr präsent. Man denke an den kannibalistischen Serienmörder Hannibal Lecter. Der Film "Delikatessen" wiederum spielt nicht nur mit der Angst des Gefressenwerdens, sondern auch mit der, unwissentlich zum Kannibalen zu werden, indem man Menschen- für Tierfleisch untergejubelt bekommt.

Exakt an diese Angst knüpft auch Steven Sondheims Musical "Sweeney Todd" an, das durch die Verfilmung mit Johnny Depp und Helena Bonham Carter bekannt wurde. Hier ist es ein Barbier, der nach 15 Jahren in das London des 19. Jahrhunderts zurückkehrt. Er will sich an dem Richter, der ihn unschuldig in die Verbannung geschickt hatte, um sich an seine Frau ranzumachen, rächen. Der Plan eskaliert.

Bald schlitzt Sweeney Todd wahllos mit seinem Rasiermesser Kunden die Kehle durch, die seine Komplizin Mrs. Lovett zu Fleischpasteten verarbeitet. Und natürlich finden diese einen reißenden Absatz. Es ist der satirische, schwarze Humor, der diese Geschichte erträglich, ja sogar vergnüglich macht.

Der andere Sweeney Todd

Nun hat das Opernhaus Zürich das Musical (es wurde 1979 uraufgeführt) mit Steven Sondheims origineller Musik auf die Bühne gebracht. Bislang dachte man, dass städtische Theater und Opernhäuser den speziellen Ansprüchen dieses Genres kaum gerecht werden können. Doch in Zürich wird man nun eines besseren belehrt. Die Umsetzung durch Regisseur Andreas Homoki (zugleich Intendant des Opernhauses) ist grandios.

Handwerklich perfekt, wie es im Musical sein sollte. Zugleich aber auf dem musikalischen Niveau, das ein Opernhaus wie das in Zürich ermöglicht. Und dazu gehört auch: endlich mal keine übersteuerten Mikros, und endlich mal kein aufgeblasener Lautsprecher-Sound! Die Philharmonia Zürich (Leitung: David Charles Abell) bringt alle Details der geistreichen Partitur zur Geltung. Und die Solisten und Solistinnen sind zwar genregerecht mikrofoniert, allerdings sehr behutsam, teilweise fast unmerklich.

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Es ist ein hervorragendes, hochprofessionelles Solisten-Ensemble, das Zürich da aufbietet – und das überwiegend aus der Oper kommt. Vor allem Bryn Terfel als Sweeney Todd ist eine Wucht und gibt der Rolle einen ganz eigenen Dreh, gerade im Vergleich zu dem weiß geschminkten Johnny Depp, der schon mehr Wiedergänger ist als Mensch.

Bryn Terfel hingegen ist eher ein Typ Gérard Depardieu. Ein massiger Mann, dessen Bitterkeit und Groll auf den Moloch London bereits in seinen ersten Worten zum Ausdruck kommt: "There is no place like London" ("Es gibt keinen solchen Ort wie London"). Was der junge Matrose Anthony (Elliot Madore) neben ihm eigentlich bewundernd meint, klingt aus dem Mund von Sweeney Todd bedrohlich.

Dass Opernsänger inzwischen immer häufiger auch hervorragende Schauspieler sind, beweist neben Bryn Terfel auch Angelika Kirchschlager als Mrs. Lovett. Aber auch die übrigen Rollen sind hervorragend besetzt – mit Melissa Petit als Todds Tochter Johanna, Brindley Sherratt als Richter Turpin, Iain Milne als sein Gehilfe The Beadle, Liliana Nikiteanu als Bettlerin, Spencer Lang als Lehrjunge Tobias Ragg und Barry Banks als vorgeblicher italienischer Barbier.

Mag in der dunklen Bühnenästhetik (Gesamtausstattung: Michael Levine) und in den Kostümen (Annemarie Woods) hier und da Tim Burtons Verfilmung als Vorbild hervorblitzen, so setzt Homoki doch sehr viele eigene Akzente, die insbesondere dem Medium Bühne gerecht werden. Wenn Sweeney Todd die Sammlung an Rasiermessern als seine alten Freunde begrüßt, recken sich zahllose Hände mit Klingen aus dem Keller (Chor der Oper Zürich) – ein Bild, das den kommenden Grusel greifbar macht.

Richter Turpin (Brindley Sherrat) vergeht sich auf dem Maskenball an Todds Frau.
Richter Turpin (Brindley Sherrat) vergeht sich auf dem Maskenball an Todds Frau. | Bild: Monika Rittershaus/Opernhaus Zürich

Ins Absurde gewendet ist auch der Maskenball, auf dem Todds Frau von Richter Turpin vergewaltigt wird. Wenige Tiermasken reichen hier aus, um die Bedrohung zu zeigen. Ein gelungene Lösung findet Homoki auch für Todds Barbierstuhl, über den die Opfer gleich eine Etage tiefer in Mrs. Lovetts Backstube katapultiert werden.

Nach der Rasur werden Sweeney Todds Opfer gleich in Mrs. Lovetts Backstube katapultiert.
Nach der Rasur werden Sweeney Todds Opfer gleich in Mrs. Lovetts Backstube katapultiert. | Bild: Monika Rittershaus/Opernhaus Zürich

Metapher für den Sozialdarwinismus

Indem Homoki die Bühne in mehrere Ebenen schichtet, wird auch deutlich, worum es in dem Stück eigentlich geht: Der Kannibalismus ist im Grunde eine Metapher für den Sozialdarwinismus, in dem verschiedene Gesellschaftsschichten gegeneinander antreten. Dabei fressen die Reichen die Armen, die Mächtigen die Machtlosen. In diesem Spiel stehen Sweeney Todd und Mrs. Lovett zunächst auf der Seite der Verlierer.

Schließlich ist es ausgerechnet ein Richter, der für schreiende Ungerechtigkeit steht. Todd und Lovett aber drehen den Spieß um. Das funktioniert nach dem Prinzip Rache des kleinen Mannes, und deswegen ist uns das Tun des schrägen Paars auch nicht grundsätzlich unsympathisch. Vor allem wenn es so geschieht wie hier in Zürich. Dann macht Kannibalismus Spaß.

Weitere Aufführungen von "Sweeney Todd" gibt es am 13., 16., 21., 23., 28. und 30. Dezember 2018 sowie am 2., 5. und 11. Januar 2019. Alle Informationen dazu finden Sie hier.