Was hat eine junge Frau, wenn sie zum It-Girl ausgerufen wird? Na, das gewisse Etwas! Nur: Auch so manches Girl am Bodensee, Schwarzwald oder Hochrhein dürfte über ein spezielles Charisma verfügen, ohne deshalb gleich ein It-Girl zu sein. Es müsste schon auch sehr gerne in der Öffentlichkeit auftreten, sich mit Promis umgeben wollen. So gerne und oft, bis viele, viele Menschen sich dafür zu interessieren beginnen, wie genau diese junge Dame aussieht, wer sie ist, was sie tut.

„Man verneigt sich vor mir, küsst meine Hand, denn dank meiner Schönheit bin ich Königin!“, singt die Titelgestalt in der 1884 uraufgeführten Oper „Manon“. Sie habe ein „abenteuerlustiges Leben“, nehme sich, was ihr gefalle. Was ja auch gut möglich ist, denn sie lässt sich von einem wohlhabenden Lebemann aushalten.

Manon (Elsa Dreisig) steht im Mittelpunkt – wie es sich für ein It-Girl gehört.
Manon (Elsa Dreisig) steht im Mittelpunkt – wie es sich für ein It-Girl gehört. | Bild: T+T Fotografie / Toni Suter

Recht hat also Floris Visser, der Regisseur der aktuellen Neuinszenierung dieser Oper des französischen Komponisten Jules Massenet (1842-1912) am Opernhaus Zürich, wenn er im Programmheft verlauten lässt, diese Art von Schönheitskönigin könne man heute „mit einer Paris Hilton oder einer Sylvie Meis, mit einem It-Girl, vergleichen“.

Er hätte noch anfügen können, dass, wie Manon, auch moderne It-Girls nach ihrem Aufstieg oftmals fallen. Allerdings wohl selten so tief wie diese Opernfigur, die, von einem Gefängnisaufenthalt strapaziert, am Ende stirbt. Schon eher vermerkt die Boulevardpresse die Trennung vom Filmstar-Gatten, mit dem einst die angeblich perfekte Ehe geführt wurde, oder einen zweiten Drogenentzug.

Schönheitskönigin mit Borderline

Und endgültig wird in wirklichen Tragödien mit tödlichem Finale nicht noch so schön gesungen wie in der Oper. Die 28-jährige französisch-dänische Rollendebütantin Elsa Dreisig gestaltet mit ihrem druckfrei geführten timbreschönen Sopran und einem hingebungsvollen Spiel anrührend Manons letztes Aufflackern und Verlöschen im Schlussakt. In den fünf Bildern davor sind wir ihr durch Stationen eines Lebens gefolgt, das aufgrund schwankender Selbstbilder wohl auch von einer Borderline-Störung geprägt war.

In einer von ihm imaginierten Kindheitsszene zum ersten Orchestervorspiel deutet der Regisseur an, dass Manon in einem lieblosen Elternhaus aufgewachsen ist. Visser hält zudem eine überzeugende Chiffre bereit für den Narzissmus der Titelgestalt: Spiegel ziehen sich leitmotivisch durch den Abend, und wenn es ans Sterben geht, halten die Menschen aus Manons Leben, sogar ihr verjüngtes Mädchen-Double, nochmals welche in die Höhe.

Die Liebe kommt wie ein Blitz

Ja, sie stirbt elend. Aber wenigstens nicht ohne den Beistand des Chevalier Des Grieux. Als dieser junge Mann der eigentlich fürs Kloster bestimmten Manon erstmals begegnet, wird er von der Liebe getroffen wie von einem Blitzschlag. Und noch bevor die beiden gemeinsam nach Paris fahren, beginnen sie füreinander zu schwärmen in Tönen, wie sie wohl nur ein Jules Massenet hat ersinnen können.

Große Liebe: Manon (Elsa Dreisig) und Le Chevalier Des Grieux (Piotr Beczala).
Große Liebe: Manon (Elsa Dreisig) und Le Chevalier Des Grieux (Piotr Beczala). | Bild: T+T Fotografie / Toni Suter

Der famose Tenor Piotr Beczala, zugleich technisch kontrolliert und glutvoll singend, und Dreisig lassen die Melodien klangschwärmerisch-innig strömen, ja ekstatisch aufblühen. Derartige emotionale Grenzüberschreitungen sind doch nur in der Oper möglich, der bis heute verrücktesten aller Kunstsparten.

Des Grieux‘ hochfliegende Pläne für eine gemeinsame Zukunft scheitern. Um den Preis, dass der Geliebte auf Befehl des Vaters von ihr gewaltsam weggebracht wird, akzeptiert Manon das Angebot des wohlhabenden De Brétigny (glaubhaft schmierig: Marc Scoffoni), im Luxus zu leben.

Die Reue kommt fast zu spät

Als sie erfährt, dass Des Grieux Priester werden will, gelingt es der von Reue Erfassten, ihn davon abzuhalten. Packend werden in Zürich die Überblendungen von Liturgie und (neuerlichem) Liebeserwachen, Kirche und körperhafter Sinnlichkeit in Klänge und Bilder überführt.

Die Ausstattung hat Dieuweke van Reij ersonnen, wobei das mit keiner leeren Opulenz hausieren gehende, schlüssig variierte Einheitsbühnenbild und die Kostüme das Geschehen vom 18. Jahrhundert – dem Libretto liegt ein Kultroman des Abbé Prévost zugrunde – in die Entstehungszeit der Oper, die Belle Époque, verlegen. Das umfasst auch die pulsierend geratene Szene im Spielsalon, die die Wende herbeiführt.

Das Ensemble setzt Akzente

Beweglich agiert Yuriy Yurchuk als Manons Vetter. Einen besonderen Akzent setzt auch Alastair Miles (stimmlich nicht restlos überzeugend) in der Rolle von Des Grieux‘ die Strippen ziehendem überstrengen Vater. Den starken Chor der Oper Zürich hat Ernst Raffelsberger einstudiert. Die von Marco Armiliato dirigierte Philharmonia Zürich spielt mit einer breiten Palette an Farben, geschmeidiger Phrasierung und wachem Sinn für Massenets flinke Wechsel der Ausdrucksregister.

Weitere Vorstellungen von "Manon" am Opernhaus Zürich gibt es am 10., 13., 18., 22. und 26. April 2019 sowie am 4., 12. und 15. Mai. Informationen zu der Inszenierung finden Sie hier.