Als Jungfrau von Orléans sehen sie manche sogar. Und tatsächlich gibt es frappierende Ähnlichkeiten zwischen Greta Thunberg und der Märtyrerin aus dem 15. Jahrhundert: Damals wie heute schien die Ausgangslage aussichtslos, und für neue Hoffnung bedurfte es einer Figur außerhalb des üblichen politischen Personals. Beide Charaktere zeichnen sich durch bedingungslose Treue zu ihren Idealen aus. Und beide brechen die gewohnten Verhandlungs- und Argumentationsmuster einer gesellschaftlichen Elite auf.

Frauen wirbeln Establishment auf

Der Konstanzer Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke ist Experte für die gesellschaftliche Funktion von Mythen und Erzählungen. In Zeiten politischer, sozialer und institutioneller Blockaden, sagt er, seien es in der Geschichte oft einzelne Frauen gewesen, die das Establishment durcheinander wirbelten. Indem sie die männlich dominierten Hierarchien aufbrachen, gaben sie scheinbar beendeten Debatten neuen Schwung. Greta Thunberg von Orléans: Sie hat auf fast magische Weise den festgefahrenen Klimakarren wieder flott gekriegt.

Statue der Jungfrau von Orléans in Paris: In Zeiten politischer, sozialer und institutioneller Blockaden, haben oft einzelne Frauen das ...
Statue der Jungfrau von Orléans in Paris: In Zeiten politischer, sozialer und institutioneller Blockaden, haben oft einzelne Frauen das Establishment durcheinander gewirbelt. | Bild: JOEL SAGET

Doch seit ihrem Auftritt beim vergangenen UN-Klimagipfel wandelt sich die Stimmung. Im Internet machen Autofans unter dem Motto „Fridays for Hubraum“ mobil. Die Bundeskanzlerin wagt erstmals sanften Widerspruch. Und der ehemalige Unionsfraktionschef Friedrich Merz nennt sie gar „krank“.

Vorwurf der Hysterie

Das war erwartbar. Frauen, die es wagten, bestehende Machtstrukturen aufzubrechen, sahen sich bereits in der Vergangenheit schon bald den immer gleichen Vorurteilen ausgesetzt: Krank seien sie, mental gestört oder gar heimgesucht von dämonischen Mächten. „Das alles bündelt sich im Vorwurf der Hysterie“, sagt Koschorke. So erging es der Jungfrau von Orléans, so erging es aber auch christlichen Mystikerinnen wie Hildegard von Bingen. Bei Greta Thunberg ist es eine Variante des Autismus, die in auffallender Häufigkeit öffentliche Erwähnung findet.

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Und doch wäre es falsch, die Kritik ausschließlich als antifeministischen Reflex oder auch als Ausdruck von Geringschätzung gegenüber dem Klimaschutz abzutun. So, wie es schon in der euphorisch gepflegten Willkommenskultur anlässlich der Flüchtlingskrise 2015 falsch war, jedem Widerspruch eine potenziell faschistische Gesinnung zu unterstellen.

„Fridays for Hubraum“

Zwar gibt es laut Recherchen des „Redaktionsnetzwerks Deutschland“ etwa bei „Fridays for Hubraum“ sehr wohl grenzwertige Meinungsäußerungen. Allerdings: Die gibt es längst schon auch aufseiten der Protestbewegung.

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Scheinhinrichtungen im Beisein von Kindern und öffentliche Verhöhnungen von SUV-Fahrern ohne Ansehen der Person lassen die Protestaktionen in neuem Licht erscheinen. Zeigen doch solche Beispiele, dass Enthemmung nicht allein rechten Protestbewegungen vorbehalten ist. Und kaum möchte man diese Vorkommnisse zu Einzelfällen erklären, irritiert auch schon Klimastreik-Initiatorin Greta Thunberg mit ihrem Auftritt in New York: Die Staats- und Regierungschefs hätten ihre „Träume und Kindheit gestohlen“, sagte, nein, rief sie unter Tränen.

Im Rahmen einer Demonstration von „Fridays for Future“ stehen Aktivisten an einem Galgen auf Eisklötzen.
Im Rahmen einer Demonstration von „Fridays for Future“ stehen Aktivisten an einem Galgen auf Eisklötzen. | Bild: Florian Gaertner/photothek.net via www.imago-images.de

Es sind diese Formen der Übertreibung, die selbst Sympathisanten der Protestbewegung zunehmend Unbehagen bereiten. Kinder, die von einem ausgeglichenen Klimahaushalt träumen statt vom neuen Smartphone zu Weihnachten? Solche Exemplare würden sich viele Eltern wünschen, allein die Wirklichkeit sieht anders aus. Und „gestohlene Kindheit“? Auch darunter verstehen die meisten Bürger anderes als behütete Jahre in Stockholm.

Mangel an Selbstreflexion

Zu den Geburtsfehlern der Klimastreik-Bewegung zählt ein eklatanter Mangel an kritischer Selbstreflexion. Von der Öffentlichkeit wurde er anfangs gnädig übersehen – Kinder genießen in unserer Gesellschaft besondere Nachsicht. Spätestens seit vor zwei Wochen Teilnehmer der „Fridays for Future“-Bewegung mit dem Kreuzfahrtschiff auf Klassenfahrt gehen wollten, ist es auch damit vorbei.

Greta Thunbergs Verdienst besteht in einer neuen, wirksameren Erzählform des Klimaproblems. Das Mädchen mit dem handgefertigten Schild „Skolstrejk för Klimatet“ vor dem schwedischen Parlamentsgebäude brachte das routinierte Wechselspiel von Mahnungen der Wissenschaft und Abwehrreflexen der Energie- und Automobilindustrie gehörig durcheinander.

Mit ihrem Schild „Skolstrejk för Klimatet“ demonstrierte Greta Thunberg vor einem Jahr am schwedischen Parlamentsgebäude ...
Mit ihrem Schild „Skolstrejk för Klimatet“ demonstrierte Greta Thunberg vor einem Jahr am schwedischen Parlamentsgebäude gegen die aktuelle Klimapolitik – damals noch ganz allein. Inzwischen folgen ihr weltweit Millionen Kinder und Jugendliche. | Bild: Daniel Reinhardt

Doch jetzt, wo die globale Aufmerksamkeit endlich gegeben ist, braucht niemand mehr eine mythische Heldengestalt. Im Gegenteil: Jede weitere Zuspitzung der Geschichte auf einen Konflikt zwischen geknechteter Jugend einerseits und ausbeutender Obrigkeit andererseits mündet in den Populismus. Denn schuld an der Klimakatastrophe ist in einer Demokratie weniger die herrschende Klasse als der unersättliche Konsument – auch und gerade in jungen Jahren.

Muss 5G wirklich sein?

Zur Diskussion steht beispielsweise, ob die von Jugendlichen als fortschrittlich und demokratisch gefeierte Digitalisierung einer stärkeren Regulierung bedarf: Die Einführung des 5G-Mobilfunks wird nach Expertenmeinung eine drastische Erhöhung des Energieverbrauchs mit sich bringen. Und werden junge Menschen eine Verteuerung des Kerosinpreises mittragen, wenn das einen Verzicht auf die beliebten Städte-reisen bedeutet?

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Innovation und Technologie messe sie „eine sehr große Bedeutung bei“, erklärte die Bundeskanzlerin zuletzt und fügte hinzu, darin bestehe ein Widerspruch zum Vortrag Greta Thunbergs. Der Widerspruch könnte geringer sein, als die Kanzlerin glaubt.

Innovationen zunichte gemacht

Denn tatsächlich hat es schon in der Vergangenheit keineswegs an Innovationen im Bereich der Energieeinsparungen gemangelt. Zunichte gemacht wurden sie vom sogenannten Rebound-Effekt. Statt sich angesichts verbrauchsarmer Kühlschränke und Autos über sinkende Strom- und Benzinrechnungen zu freuen, legte sich der Verbraucher umso mehr technische Geräte zu oder leistete sich energieintensive Extras, die ihm vor Jahren noch zu teuer gewesen wären: Wäschetrockner statt Leine, SUV statt Kleinwagen, E-Bike statt Fahrrad.

Auf Einsparung beschränken

Wirksamer Klimaschutz würde bedeuten, Innovation ganz auf das Feld der Energieeinsparung zu beschränken statt auf die Entwicklung energieintensiver Produkte, die unser Leben weiter erleichtern. Es gehört zur Wahrheit, dass damit ein Verzicht auf weitere Annehmlichkeiten einhergehen würde, und es ist nicht absehbar, ob das gegenwärtige Wirtschaftssystem eine solche Neujustierung ohne Wettbewerbsnachteile und Arbeitsplatzabbau aushalten könnte.

Wenn Greta und die Bewegung „Fridays for Future“ die Früchte ihres bisherigen Erfolgs auch ernten wollen, müssen sie sich jetzt konstruktiv an der Debatte um diese konkreten Fragestellungen beteiligen. Das ist kompliziert, anstrengend – und eignet sich nicht mehr für Heldenmythen.

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