Aus dem Flur sind Schreie und dumpfe Explosionen zu hören, da begreift Philippe Lancon: Sein Leben könnte jetzt zu Ende sein. Was denkt man in so einem Moment?
Sieben Seiten für einen Moment
Philippe Lancon, Journalist für die französische Satirezeitschrift "Charlie Hebdo" und Überlebender des islamistischen Attentats auf die Redaktion vom 7. Januar 2015, braucht sieben Seiten, um ihn in Worte zu fassen. Einen Moment und ein Ereignis, das "nicht nur unsere Vorstellungskraft, sondern auch unsere Sinneswahrnehmungen" übersteigt.
Er sei vermutlich in eine Welt gekippt, in der "alles so gewalttätig ist, dass es wie gedämpft und verlangsamt erscheint, weil das Bewusstsein den zerstörerischen Augenblick gar nicht anders wahrnehmen kann", schreibt er. An Kinder habe er gedacht und an einen schlechten Scherz. Zugleich aber wissend, dass beide Versionen nicht stimmen, nur der Fantasie eines Bewusstseins entspringen, das den Tod nicht wahrhaben will.
17 Operationen
Lancon hat das Attentat überlebt und auch nicht. Denn wer sein Buch "Der Fetzen" liest, bekommt eine Vorstellung davon, was das heißt: ein Attentat überleben. Im Krankenhaus, wo in 17 Operationen sein von einem Geschoss zerstörter Unterkiefer rekonstruiert wird, entsteht eine neue Wirklichkeit, eine neue Identität und damit auch ein neues Leben.
In Frankreich hat "Der Fetzen" zahlreiche Literaturpreise gewonnen. Jetzt ist das Werk auch in deutscher Übersetzung erhältlich (Tropen Verlag). Für das französische Publikum mag sich die Lektüre allein schon aus historischem Interesse lohnen: Wie niemand sonst kann Lancon beschreiben, was am 7. Januar geschehen ist. Für das deutsche Publikum sind vor allem seine seelischen Reflexionen interessant.

Die Assoziationen beim Betrachten seiner Wunden zum Beispiel. Beim Anblick seines aufgeschlitzten Unterarms muss er an Kalbsleber denken. Und als er auf dem Display eines Smartphones erstmals sein zur hälfte zerfetztes Gesicht erkennt an einen Krater, "der von der Hand eines kindlichen Malers zu stammen schien".
Sorge um die Versicherungskarte
Beim Transport ins Krankenhaus treibt ihn statt der Hoffnung aufs blanke Überleben ein kleinbürgerliches, schlechtes Gewissen um: Hat er überhaupt seine Krankenversicherungskarte dabei? Vielleicht wollen die in der Klinik auch seinen Personalausweis sehen!
"Nummeriertes Maultier"
Sein Leben steht auf der Kippe, doch er sorgt sich um Nebensächlichkeiten wie den möglichen Diebstahl seines am Verlagsgebäude abgestellten Fahrrads: "Der Verwundete war noch nicht einmal im Krankenhaus, als der Bürger, dieses nummerierte Maultier, schon wieder entlassen war."
Von allen beäugt
Doch Lancon ist nicht nur Bürger, sondern auch Journalist. Als solcher gewohnt, über andere zu schreiben, steht er plötzlich im Mittelpunkt. Das überlebende Opfer des schrecklichen Anschlags, rund um die Uhr bewacht von Polizisten. "Mein Beruf, so hatte ich es gelernt, erforderte Diskretion. Aber wie soll man diskret sein, wenn man von allen beäugt wird?"
In seiner Chirurgin Chloé lernt er eine resolute Persönlichkeit kennen, die ihm mit ihren bisweilen barschen Ansagen auch bei der psychischen Bewältigung der Katastrophe hilfreich ist. So lernt der Erzähler die Bedeutung des Aufhörens, des sich Abfindens mit Unvollständigkeit. "Für den Chirurgen besteht die Versuchung darin, sich mit jeder Veränderung dem idealen Gesicht anzunähern", sagt Chloé: "Natürlich gelingt das nie, man muss aufhören können." Das sei ja, erwidert ihr der Patient, wie beim Schreiben eines Buchs – und scheint in diesem Vergleich einen Halt, einen Trost zu finden.
Mit auffallender Penetranz zitiert Lancon die Geistesgrößen unserer abendländischen Kulturgeschichte, schlägt Bezüge zu den großen Tragödien und Komödien Molières oder Racines, liest in Thomas Manns "Zauberberg", Prousts "Suche nach der verlorenen Zeit" und Kafkas Erzählungen, hört Klavierwerke von Bach: Sie mögen ihm seinen Kiefer genommen haben, nicht aber seine Kultur.
Kein Hass den Tätern
Und auch den Hass möchte er den Tätern nicht gönnen. "Ehrlich gesagt waren mir die Brüder K genauso egal wie die Diskurse, die sie verurteilten oder, angeblich aus einem soziologischen oder philosophischen Interesse heraus, bereits zu verstehen versuchten."
"Warum nicht der Imam?"
Als ihn die Krankenschwester fragt, ob der bereit sei, den Krankenhausseelsorger zu treffen, kommt ihm spontan der Gedanke: "Warum nicht der Imam?" Tatsächlich liegt der nur scheinbar absurden Idee eine tiefe Wahrheit zugrunde. Wenn schon ihm, dem erklärten Atheisten, ein Geistlicher bei er Aufarbeitung der Ereignisse helfen soll, so doch wohl am ehesten noch ein Experte in Sachen Islam!
Houellebecq im Radio
Der Islam ist seltsam an- und abwesend zugleich in diesem Buch. Nicht gewillt, den Tätern ein fassliches Motiv oder gar so etwas wie ein Argument zuzugestehen, hält Lancon bei seinen Überlegungen die Religion fern. Und doch hatte er gerade erst am Morgen des Anschlags Michel Houellebecq im Radio gehört – wie er seinen Skandalroman "Unterwerfung" verteidigte. Der darin beschriebene Islam sei doch eher gemäßigt: "Ich habe den Eindruck, es gibt noch Schlimmeres." Er sollte Recht behalten.
Bewunderter Autor
Immer wieder tun sich Bezüge zu Houellebecq auf. Es ist, als setze Lancon diesen von ihm erkennbar bewunderten Autor als Ersatzadressat für jegliche Fragen an den Islam ein. Als einen Experten, der zwar vielleicht nicht koranfest sein mag, sehr wohl aber ein Gespür hat für die feinen Strömungen in einer Gesellschaft, die in ein Desaster münden können wie jenen Anschlag vom 7. Januar.
Ein Lächeln als Grimasse
Fast folgerichtig begegnet der aus dem Krankenhaus entlassene Journalist am Ende seinem Idol. "Zerstört, mineralisch und mitfühlend" habe er gewirkt, schreibt Lancon: "Sein Lächeln grenzte an eine Grimasse." Sie hätten ein paar kaum verständliche Wörter über das Attentat und die Toten gewechselt.
Die Gewalttätigen reißen es an sich
Schließlich habe Houellebecq einen Bibelvers zitiert. Er stammt aus dem Matthäus-Evangelium und lautet: "Die Gewalttätigen reißen es an sich." Gemeint ist das Himmelreich.