Tilmann P. Gangloff

100 Millionen verkaufte Eintrittskarten: Das klingt zunächst imposant. Doch die Zahl täuscht: Die Deutschen sind Kinomuffel geworden. Während das vergangene Kinojahr in anderen Ländern für Rekordumsätze gesorgt hat, war hierzulande jeder Einwohner im Schnitt nur 1,3 mal in einem Filmtheater; Deutschland ist damit Schlusslicht in Europa. Die Kinobranche erklärt das mangelnde Interesse mit Fußball-WM und Jahrhundertsommer, aber in Frankreich war auch schönes Wetter, und das Land ist sogar Weltmeister geworden; trotzdem war der durchschnittliche Franzose doppelt so oft im Kino.

Konstanzer Scala zeigt den Bedeutungsverlust

Tatsächlich ist der hiesige Bedeutungsverlust des Kinos zum Teil hausgemacht. Einer der Gründe ist der Verlust der Kinokultur. Der aus Konstanz stammende Regisseur Douglas Wolfsperger hat diesem Phänomen seinen jüngsten Film gewidmet, „Scala Adieu“. Der Titelzusatz „Von Windeln verweht“ deutet an, worum es geht: Das beinahe achtzig Jahre alte Kino im Konstanzer Stadtzentrum musste einem Drogeriemarkt weichen.

Wolfspergers Dokumentarfilm ist jedoch mehr als nur ein Abgesang mit lokalem Charakter. Das Scala, in dem er einst die Osterbeichte schwänzte, weil er lieber den neuen Film mit Louis de Funès sehen wollte, steht für all’ jene Traditionshäuser, die beim Wettbewerb mit den modernen Multiplexzentren den Kürzeren gezogen haben. Ähnlich wie Wolfsperger haben Filmfreunde im ganzen Land ein Stück Kindheit verloren. Der vielfach ausgezeichnete Regisseur hat im Scala nicht nur das Kino kennen und lieben gelernt, hier hat er auch im Rahmen feierlicher Heimspielpremieren fast alle seiner Filme präsentiert.

Lieber Serienschauen statt ins Kino

Ein zweiter Grund für den derzeitigen Abschwung erinnert an die Fünfzigerjahre, als den Filmtheatern neue Konkurrenz durch das „Pantoffelkino“ erwuchs; damals musste man nicht mehr ins Kino gehen, um bewegte Bilder zu erleben. Seit einiger Zeit heißt die Devise für viele namhafte Hollywood-Regisseure „Fernsehen ist das neue Kino“, weil gerade im Serienbereich hochinteressante Produktionen entstehen. Streaming-Dienste wie Netflix und Amazon haben entscheidenden Anteil daran, dass der vor Jahren durch den amerikanischen Bezahlkanal HBO („Die Sopranos“, „Game of Thrones“) ausgelöste Serien-Boom noch verstärkt worden ist. Längst trumpfen die Dienste auch mit deutschen Serien auf; für „Dark“ (Netflix) und „Beat“ (Amazon) gab es gar den Grimme-Preis. Diese Produktionen genießen gerade bei jungen Zuschauern einen besonderen Status. Die 20- bis 29-Jährigen bilden traditionell die Kernklientel des Kinos; in keiner Altersgruppe ist der Besucherrückgang so groß wie bei ihnen.

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Die Serien stoßen auch deshalb auf großes Interesse, weil viele Filme zunehmend einfallsloser werden. Da sich die großen Hollywood-Produktionen längst jenseits der 200-Millionen-Dollar-Marke bewegen, muss das Risiko eines Flops so weit wie möglich minimiert werden. Deshalb wird das Kino mittlerweile von wenigen Marken dominiert: „Star Wars“, „Harry Potter“, „X-Men“, „Avengers“ „Justice League“. Weil die Geschichten inhaltlich kaum noch überraschen, wird der Aufwand immer größer und teurer, wodurch das finanzielle Risiko steigt. Ein Teufelskreis.

Es fehlen Filme für durchschnittlich anspruchsvolles Publikum

Medienwissenschaftler Gerd Hallenberger verweist auf einen weiteren Aspekt, den er „Verlust der Mitte“ nennt: „Früher bot der Kinomarkt eine gewisse Bandbreite. Heute laufen, überspitzt formuliert, nur noch Hollywood-Blockbuster und ein paar Arthaus-Produktionen. Es fehlen Filme, die auch ein durchschnittlich anspruchsvolles Publikum ansprechen“. Man könnte auch sagen: Es fehlen innovative Regisseure wie Martin Scorsese („Taxi Driver“) oder Francis Ford Coppola („Der Pate“), die in den Siebzigerjahren unter dem Etikett „New Hollywood“ die Modernisierung des Kinos eingeleitet haben; Scorsese produziert heute Serien. Für Hallenbergers These spricht auch der Umstand, dass der Umsatzrückgang bei Programmkinos, die ja nicht nur Filme für Cineasten zeigen, überproportional groß ist.

Totgesagte leben länger

Die Branche selbst demonstriert dennoch Zuversicht. Alfred Holighaus, Chef der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (Spio), sieht in den rückläufigen Besucherzahlen „keinen Anlass für kulturpessimistischen Fatalismus“, im Gegenteil: „In einer Zeit und in einem Land, da die Kinos in den Städten und in der Fläche oft die einzigen funktionierenden Angebote für Kultur und Kommunikation jenseits von Echokammern und Chat-Räumen sind, gewinnen sie an kultur- und gesellschaftspolitischer Relevanz. Sie sind Alternativen zur Vereinsamung und Vereindeutigung.“ Er appelliert an die Filmtheaterbesitzer, dies auch „offensiv zu bewerben und zu beweisen: mit neuen programmatischen Ideen sowie mit Offensiven in technologischer und kommunikativer Hinsicht.“

Ein Kultur- und Kommunikationsort

Martin Turowski, Vorstand des Hauptverbands Deutscher Filmtheater (HDF), lässt sich seine Zuversicht ebenfalls nicht nehmen: „Ich bin überzeugt, dass Kinos auch in Zeiten von Netflix eine besondere Anziehungskraft ausüben. Sich bewusst für einen Film zu entscheiden, ihn auf einer großen Leinwand zu erleben und gemeinsam mit anderen Zuschauern zu lachen und zu weinen: Das gibt es nur im Kino! Wir sind ein Kultur- und Kommunikationsort, der Menschen mit anderen Lebenswelten und Perspektiven vertraut macht und ganz konkret den Zusammenhalt unserer Gesellschaft fördert.“

Doris Dörrie macht sich Sorgen

Und was sagt Wolfsperger? Auch er gibt sich optimistisch: „Dem Kino ist ja schon öfter ein baldiger Tod prognostiziert worden, aber es ist immer noch da; Totgesagte leben eben länger.“ Auch das beste Streaming-Angebot werde nicht zur Folge haben, „dass gerade die Filmfreunde meiner Generation ihr Popcorn in Zukunft zuhause essen werden, wie die steigende Zahl der älteren Kinobesucher zeigt.“ Für die Generation Wolfspergers (61) war das Kino allerdings ohnehin stets mehr als nur ein Zeitvertreib; in Kleinstädten bot es einst oft die einzige Möglichkeit, der Enge des kleinbürgerlichen Alltags zu entkommen. Gerade deshalb macht sich Regiekollegin Doris Dörrie (63) Sorgen um die Zukunft des Kinos: „Für junge Menschen ist es nicht mehr dieser mystische Ort, der es für uns war.“

Douglas Wolfspergers „Scala Adieu“ läuft ab 21. März im Kino. Bereits am 17. und 18. März, präsentiert Wolfsperger seinen Film im Stadttheater Konstanz. Weitere Aufführungen sind im Kreuzlinger Kult-X-Kino sowie im Konstanzer Konzil geplant