Herr Kirchhoff, Sie beschreiben in Ihrem autobiografischen Roman "Dämmer und Aufruhr", wie sich unsere Region im Südwesten auf eine kindliche Seele auswirkt...

Da ist viel dran, ja.

Sie sind als kleiner Junge aus der liberalen Weltstadt Hamburg ins enge Schwarzwalddorf Kirchzarten gekommen. Eigentlich scheint es aber genau umgekehrt: als hätten Sie die Enge gegen die Weite eingetauscht.

Ich habe im Schwarzwald zum ersten Mal erlebt, was Jahreszeiten sind. Außerdem bin ich erst hier im Alltag anderen Kindern begegnet. Das alles hatte ich in Hamburg nicht erlebt, und insofern war es eine große Erweiterung. Ohne diese Erweiterung, also ohne die vier Volksschuljahre auf dem Dorf, hätte später das Internat in mir einen noch viel größeren Schock ausgelöst.

Bodo Kirchhoff (links) vor dem Gespräch mit SÜDKURIER-Redakteur Johannes Bruggaier.
Bodo Kirchhoff (links) vor dem Gespräch mit SÜDKURIER-Redakteur Johannes Bruggaier. | Bild: Anne Michaelis

Sie gingen später in die evangelische Internatssuchule Gaienhofen. Inwiefern hat Sie das schockiert?

Insofern, als ich aus einer relativen Idylle in die Elternlosigkeit gestürzt bin. Die ländliche Umgebung aber war für mich nun nicht mehr neu. Wobei ich hinzufügen muss: Dem Bodensee ist eine Melancholie zu eigen, die der Schwarzwald nicht hat. Der Schwarzwald ist rau und in jeder Jahreszeit präzise. Der Bodensee dagegen lässt die Jahreszeiten verschwimmen – mit sehr langen melancholischen Phasen.

Er hat nordische Elemente.

Ja, es sind Elemente der Agonie: zum Beispiel wenn im Juni der Dunst über dem See schwebt. Aber auch im November, wenn das Flachwasser ansetzt und die Stege herausragen, alles regungslos ist. Es gibt dann im Oktober noch mal so ein Hoch, wenn sich die Nebel lichten...

"Er lässt die Jahreszeiten verschwimmen": Der Bodensee bei der Insel Reichenau.
"Er lässt die Jahreszeiten verschwimmen": Der Bodensee bei der Insel Reichenau. | Bild: thomas pics / stock.adobe.com

Lassen Sie uns erst noch beim Schwarzwald bleiben. Die Fünfzigerjahre im Schwarzwald stellt man sich sehr konservativ, rückständig vor...

...katholisch!

Sie beschreiben aber auch sehr deftige Szenen. So konnten Sie als kleiner Junge kopulierende Paare beobachten. Wie muss man sich die Gegend zu dieser Zeit vorstellen: konservativ, progressiv oder beides zusammen?

Anarchisch! Die Fasnet zum Beispiel ist eine absolut anarchische Angelegenheit mit mittelalterlichen, atavistischen Zügen der Hexenverbrennung. Das hat mich tief beeindruckt. Ich habe daran gelernt, dass sich unter einer Oberfläche etwas ganz anderes verbergen kann. Auch außerhalb der Fasnet war das immer wieder zu erleben: Die Menschen waren gottgläubig und haben trotzdem "Gottverdammi!" geflucht. Ständig kam irgendetwas an die Oberfläche, das sich von dieser radikal unterschied. Das hatte aber nichts mit Bigotterie oder Doppelmoral zu tun. Es war vielmehr so, dass beides parallel Bestand haben konnte.

Eine Hexe der Narrenzunft Schwenningen zündet eine Strohhexe mit Fackeln an.
Eine Hexe der Narrenzunft Schwenningen zündet eine Strohhexe mit Fackeln an. | Bild: Patrick Seeger

Ihre Mutter nahm eines Tages eine Arbeitsstelle in Frankfurt an – in einer Zeit, zu der Ehefrauen dafür noch die Erlaubnis ihrer Männer benötigten. Wie kam so ein emanzipiertes Rollenverständnis im Schwarzwald an?

Davon haben wir nichts mitbekommen. Wir sind von Anfang an Außenseiter gewesen. Weil wir einen klapprigen Wagen hatten, galten wir als reich, auch wenn das nicht unseren tatsächlichen Verhältnissen entsprach. Dann sprachen wir auch noch Hochdeutsch!

Ihre Eltern haben Sie dann im Internat angemeldet. Und als die Mutter auf der Fahrt nach Gaienhofen den Hegau erblickt, ruft sie: "Wie herrlich und gesegnet diese Gegend doch ist!"

Das war ihre Emphase, zugleich aber auch der Versuch, den Segen für ihre Entscheidung zu erhalten.

Sie hat sich selbst die Absolution dafür erteilt, ihren eigenen Sohn ins Internat zu schicken?

Ja, natürlich. Das ging ja bis zu ihrer Verabschiedung am Internatseingang so weiter. Tatsächlich sollte diese "gesegnete Gegend" vom ersten Tag an von Grausamkeiten, enormer Brutalität und Kälte geprägt sein.

Sie sind im Internat Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden. Über eine lange Zeit hinweg konnte sich ein pädophiler Kantor an Ihnen vergehen. Wird so ein Verbrechen durch eine Idylle begünstigt?

Es wird begünstigt durch eine Gegend der Isolation. In Gaienhofen waren wir Schüler vollkommen ausgeliefert und ausgesetzt. Es gab ja nicht einmal ein Telefon, das wir benutzen konnten! In gewisser Weise lebte ich da in einem Gulag.

Die ehemalige Internatsschule in Gaienhofen.
Die ehemalige Internatsschule in Gaienhofen. | Bild: Jarausch, Gerald

Man glaubt, wer ein Kind missbraucht, hat etwas gegen dieses Kind in der Hand, womit er es unter Druck setzen kann. In Ihrem Fall stellt sich das anders dar.

Ja, es war mehr eine Verführung. Und die Unfähigkeit des Kindes, sich dagegen aufzulehnen. Ich habe mich dem auch deshalb überlassen, weil sonst nichts anderes da war. Es schien mir wie eine Art Erwählung.

Viele glaubten in dieser Zeit noch, man müsse einem Menschen doch das Böse an der Nase ansehen können. Welche Rolle spielt, dass der Täter ein Mann der klassischen Musik ist, gut aussieht und an einem angesehenen Gymnaisum arbeitet?

Das spielte natürlich eine große Rolle. Dieser Mann hat uns ja zu Höherem geführt! Zu Bach, zu Orff! Aber das ist dasselbe wie bei den Missbrauchsfällen im kirchlichen Bereich. Vielleicht mit einem Unterschied: Der Täter war kein fieser Typ, sondern einfach jemand mit Ausstrahlung.

In "Die Liebe in groben Zügen" beschreiben Sie, wie absurd dieses Thema sexueller Missbrauch in Fernsehtalkshows behandelt wird. Statt aufrichtigen Interesses dominiert der Voyeurismus. Sind wir wirklich weitergekommen in den vergangenen Jahrzehnten?

Natürlich ist das Ganze eine mediale Kiste. Ich hatte schon 1993 über meine Erlebnisse geschrieben, das hat damals keinen Menschen interessiert. Heute läuft das ganz anders: Die Rezeption meines Buchs lief fast nur über den Begriff "Missbrauch". Den hängt man mir an wie eine Kuhglocke, weil es nun mal gut in die Medien passt. Das ist die eigentliche Katastrophe, weil dadurch der Blick für die Literatur, also die Erzählweise, unbeachtet bleibt. Wie kann man von solchen Ereignissen erzählen? Welche Sprache gibt es zur Sexualität? Das sind doch die Themen!

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Kann man besser über Sexualität schreiben als sprechen?

Ja. Weil man behutsamer ist und mehr nachdenkt. Weil man sich korrigieren kann. Innerhalb sexueller Intimität kann man darüber auch sprechen. Das ist dann aber etwas ganz anderes.

Sie schreiben im Roman: "Jahrzehnte würde es dauern, bis sich ihm erschließt, wie sehr das Begehren das Sein verbraucht." Dieser Satz taucht auch in anderen Romanen von Ihnen auf.

Ja, das ist für mich eine Schlüsselerkenntnis. Das Vergeudende in diesem Begehren, dieses ständige Wiederholenmüssen: Ich kann das nicht anders bewältigen als durch immer neues Anzapfen meiner eigenen Seinsressource. Diese Ressource ist aber endlich.

In unserer Gesellschaft ist Sexualität allgegenwärtig, jedes zweite Werbeplakat fordert uns dazu auf, unsere Begierden zu erfüllen...

Diese allgegenwärtige Aufforderung trägt dazu bei, das sakrale Moment in der Sexualität zu zerstören. Das ist ohnehin ein allgemeiner Trend: der Abbau des Heiligen. Von allen Seiten wird versucht, die Dinge so zu banalisieren, dass sie möglichst breit gestreut werden können. Damit lässt sich einfach mehr Profit machen.

Sie haben den Bodensee bereits charakterisiert...

Kirchhoff: ...über das Schilf habe ich noch nicht gesprochen.

Welche Rolle spielt das Schilf?

Es war für uns von Anfang das Versteck. Im Schilf hat uns nie jemand gefunden, hierhin konnten wir uns zurückziehen. Und es gab große Schilffelder zwischen Gaienhofen und Horn: riesige Schilffelder! Das war eine andere Welt, das war unsere Nische.

Wie ergeht es Ihnen heute, wenn Sie in unsere Region kommen?

Ich meide es zurzeit, an den Bodensee zu reisen. Ich habe in den vergangenen Jahren einige Male in Gaienhofen gelesen, jetzt mache ich das aber nicht mehr. Es hat irgendwie einfach einen Punkt erreicht, an dem ich nicht mehr so recht will.

Fragen: Johannes Bruggaier