70 Jahre nach dem Ende der Nazi-Tyrannei stemmen sich immer noch aufrechte Menschen dagegen, dass die Verbrechen des Hitler-Faschismus in Vergessenheit geraten. Zum Holocaustgedenktag sind viele in die Krankenhauskapelle gekommen, um sich der 90 ermordeten Psychiatriepatienten des früheren Fürst-Carl-Krankenhauses zu erinnern. Frank Thomas Bopp, Leiter der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, hält eine sehr einfühlsame Rede. „Wir dürfen nicht gleichgültig sein gegen Intoleranz und Menschenhass“, mahnt der Arzt. Dass die Verantwortlichen dieser Gewaltherrschaft heute nicht mehr leben, entlasse die Gesellschaft nicht aus ihrer Pflicht einer steten Wachsamkeit. Bopp forderte zum aktiven Handeln auf, um Tendenzen der Intoleranz frühzeitig erkennen und im Ansatz ersticken zu können. Er bricht eine Lanze für die demokratische Presse: „Wer heute, wie Teilnehmer von Pegida, Lügenpresse schreit, der zensiert sie morgen und verbrennt übermorgen Bücher. Das hatten wir schon mal. Das Dritte Reich ist nicht aus dem Nichts entstanden, sondern weil es eine schweigende Mehrheit duldete!“
 

NS-Verfolgte in der Region

  • Am Gedenkstein in Sigmaringen gedachte man jener Menschen, die während der Nazi-Herrschaft schwer drangsaliert wurden und zu Tode kamen:

  • Bad Saulgau: Am „Haidemer Stöckle“ wurde der sich widerstandslos ergebende 22-jährige amerikanische Oberleutnant Theodore Nielsen von einem SS-Offizier erbarmungslos niedergeschossen, nachdem seine Maschine von der Flak getroffen war und er sich mit dem Fallschirm rettete. Außerdem bestand hier ein KZ-Außenlager mit 400 Häftlingen, wobei 43 zu Tode kamen.

  • Illmensee: Dem polnischen Zwangsarbeiter Mirtek Grabowski wurde eine Liebschaft zu einer 17-Jährigen aus ihrem Heimatdorf Ruschweiler zum Verhängnis: Die Nazis erhängten ihn 1941 an einem Birnbaum, das Mädchen kam ins KZ Ravensbrück.

  • Ostrach: Eine Kolonne von ausgemergelten, vielfach kranken KZ-Häftlingen erreichte am 22. April 1945 die Gemeinde auf ihren Todesmarsch nach Schörzingen. Wegen „Hochverrats“ wurde am 12. Januar 1945 der Zentrumspolitiker und Rechtsanwalt Reinhold Frank aus Bachhaupten hingerichtet.

  • Pfullendorf: Erhängt wegen „Rassenschande“ wurde hier der polnische Zwangsarbeiter Jan Kobus, der auf einem Bauernhof in Ruschweiler mit einer 20jährigen Deutschen eine Liebesbeziehung eingegangen war.

  • Sigmaringen: Im Fürst-Carl-Landeskrankenhaus wurden nicht nur zwischen 1934 und 1942 mehr als 100 vorgeblich „erbkranke“ Männer unfruchtbar gemacht. Insgesamt 90 von 213 Behinderten und chronisch kranken Psychiatrie-Patienten wurden am 12. Dezember 1940 und 14. März 1941 abtransportiert und in die Tötungsanstalten von Grafeneck und Hadamar verbracht. Die Versammlung erinnerte gleichermaßen an das Schicksal der jüdischen Familie Frank, die in Sigmaringen unter dem Einfluss der Rassenpolitik ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage beraubt und vertrieben wurde.

  • Sigmaringendorf: Erinnert wurde an die 1700 ausländischen Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeiter, die von 1940 bis 1945 unter unmenschlichen Bedingungen in Laucherthal Rüstungsgüter herzustellen hatten, was acht Männer, eine Frau und neun Kinder nicht überlebten.

  • Stetten a.k.M.: Der Truppenübungsplatz und das Lager Heuberg beherbergte ein Konzentrationslager, das am 20. März 1933 eröffnet wurde. Hier wurden mehr als 2000 vorwiegend württembergische Kommunisten und Sozialdemokraten unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten. Auf dem so genannten Russenfriedhof am Rande des Truppenübungsplatzes erinnert ein Gedenkstein an die Opfer des „Strafbataillons 999“ – einer Einheit zwangsrekrutierter Soldaten, die ihre Wehrwürdigkeit verloren hatten.

Kreisarchivar Edwin Ernst Weber hinterfragt, weshalb Historiker und Journalisten mit Vorträgen, Veröffentlichungen und Ausstellungen immer wieder an die dunklen Jahre der nationalsozialistischen Gewalt- und Unrechtsherrschaft erinnern. Nach seiner Erfahrung aus 25 Jahren der histografischen Auseinandersetzung mit dem Thema in ihrer regionalen Dimension hätte das „öffentliche Erinnern an den furchtbaren Zivilisationsbruch“ nichts mit „kollektiver Selbstkasteiung“ zu tun. Weber sagt, er sei zutiefst von der Wahrheit der Erkenntnis des jüdischen Rabbi und chassidischen Mystikers Israel Ben Elieser überzeugt: „Vergessen führt ins Exil. Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Wir seien es uns und unseren Kindern schuldig, dass daran erinnert wird, in welche furchtbaren Abgründe des Rassenhasses und kollektiven Wahns Menschen sich unentrinnbar verstricken können.

Grundlagen des Erinnerns

Weber stellt fest, dass 70 Jahre nach dem Untergang der NS-Diktatur sich die Grundlagen des Erinnerns nachhaltig verändern. Zeitzeugen kämen abhanden, denen sich als Opfer, Überlebende, auch Mitläufer und Täter die Vergangenheit unauslöschlich ins Gedächtnis einbrannte. Jetzt wandele sich Erinnerung aus der Schilderung von Zeitzeugen in Bücherwissen geschichtlicher Dokumente. Dass auch Dokumente des Erinnerns erschüttern und zugleich mahnen können, vermittelt Weber anhand von Zeitzeugen-Berichten zu den Morden an Sigmaringer P^^sychiatrie-Patienten im Dezember 1940 und März 1941 in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar. Das erste Dokument, von Julia Burth-Domday verlesen, ist ein Brief der Abteilungsleiterin in der Männer-Psychiatrie, dem Vinzenzhaus, Schwester Maura Gihr, an den Facharzt für Psychiatrie, Hans Hüetlin. Motiv ihres Schreibens bildete die Deportation von 72 Patienten nach Grafeneck, in der sie eine Besprechung des ärztlichen Direktors schilderte.

Das zweite Dokument, von Bernhard Rebholz verlesen, ist ein Tatsachenbericht aus dem SÜDKURIER vom 9./10. Juli 1949, der unter der Überschrift „Zwei graue Omnibusse fuhren vor“ darüber berichtete, wie psychisch Kranke des Fürst-Carl-Landeskrankenhauses nach Grafeneck transportiert wurden. Anlass war ein Prozess auf Schloss Hohentübingen, wo acht Beschuldigte der Beteiligung an der Ermordung von 10 654 „geisteskranken“ Männern, Frauen und Kindern in Grafeneck angeklagt wurden. Weber: „Aus heutiger Sicht ist die überaus nachsichtige Behandlung der Beteiligten kaum verständlich: Fünf der acht Angeklagten werden frei gesprochen, der Hauptangeklagte, Medizinalrat Otto Mauthe, erhält fünf Jahre Freiheitsentzug!“

Im Schweigemarsch machen sich die Versammelten auf den Weg zum Gedenkstein, der zu Jahresbeginn beim Landratsamt umgesetzt ist und jetzt neu eingeweiht wird. Vertreter der Pfadfinderschaft St. Georg überbringen das Friedenslicht. Junge Frauen der SRH-Gesundheits- und Krankenpflegeschule Pfullendorf geben durch das Verlesen der Namen den Deportierten ein Gesicht. Viele Kerzen erinnern an regionale Naziverbrechen (siehe Infoleiste). Dazu spielt Stefan Dudda das Saxofon. In der Krankenhauskapelle bedient Bezirkskantor Klaus Krämer die Orgel und Hermann Brodmann steuert einen wunderschönen Gesangespart bei.