Allein der Anblick. Da spielen 16 Kinder sich gegenseitig den Ball zu, flanken ihn vergnügt, passen ihn sauber. Die einen im blauen Trikot, ebenso viele tragen Neongelb. Sie lachen, schreien, Schuhsohlen quietschen, dann rumms. Der Ball im Tor.
Bundeskanzler schaut beim VfB Friedrichshafen vorbei
Auftritt Scholz. Es ist kurz nach zwei, als der deutsche Bundeskanzler an diesem Samstag im November die Turnhalle des VfB in Friedrichshafen betritt. Die Jungs im Spalier. Hin und wieder zappelt eines der Kinder, der Besuch aus Berlin muss besonders sein, das wissen sie.
Die Kinder wurden gebrieft, vom Verein und vom Bundeskriminalamt. „Bauch einziehen“, mahnt der Trainer die Horde, die Kleinen glucksen und stehen stramm.

Zuletzt war Scholz in Bali, Singapui und Vietnam unterwegs. Jetzt also der beschauliche Bodensee, wo heute nicht nur der Landesparteitag der SPD stattfindet, sondern auch eine Trainingseinheit der örtlichen F-Jugend. Olaf Scholz als Kanzler zum Anfassen. Wie nahbar wird er sein?
Die Turnhalle stammt aus den 80ern, viel Grün, nostalgischer Charme. Den Sportverein gibt es seit 1909. Mittlerweile gehört der VfB zu den größten Vereinen Baden-Württembergs. Mit 23 Sparten, mit Arnis, Boxen, Volleyball und Cricket. Dass Scholz ausgerechnet hierher kommt, hat trotzdem viele gewundert. Der Besuch des Kanzlers, so heißt es von den Verantwortlichen, sei ein Jahrhundertereignis. Nachwuchs-Kicker Bruno Nikolic sagt: „Da wollen wir dabei sein.
Scholz spricht mit Vereinsverantwortlichen in Friedrichshafen
Scholz betritt die Halle zurückhaltend. Einer, der sich selbst genügt, morgens joggt, aber auch rudert, trifft nun auf Jungs, die das Team, die Mannschaft lieben. Vielleicht geht der 64 Jahre alte Kanzler inmitten der jungen Fußballer auch deshalb etwas unter. Er winkt den Kindern zu, bevor er ihnen die Hand gibt. Die dulden das etwas steif, lächeln aber.
Zuvor schon hat Scholz, dunkler Anzug, Pulli, hinter verschlossenen Türen mit den Vorsitzenden des Vereins gesprochen. Thema sollte das Ehrenamt werden und damit nicht weniger als eine tragende Säule der Gesellschaft. Das sei dem Kanzler wichtig gewesen, der VfB aus diesem Grund auch ausgesucht:
Vor zwei Jahren erst hat der Verein die Sepp-Herberger-Urkunde verliehen bekommen, es ist eine der wichtigsten Anerkennungen überhaupt für soziales Engagement in Deutschland. Von dreieinhalbtausend Mitgliedern sind 911 Kinder und 375 Jugendliche.

Darunter die Kicker der F-Jugend. Eine Vorzeigemannschaft, bilderbuchecht. Viele spielen, seit sie drei oder vier Jahre alt sind. Bruno zum Beispiel und Issa und Nico und Fabian und Ahmad und Vadim und Alessio und Raed. Kein einziges Spiel haben sie die vergangenen drei Jahre verloren, sagt Sebastian Franz, stolzer Trainer.
Der Sportsgeist des Jugendfußballs. Der Traum von Integration. Nur einer der Jungs ist deutsch. Ein Selfie mit Olaf Scholz, dem Star des Tages, bekommt dennoch keiner. „Schade“, meint Ensan, der Zehnjährige kickt weiter.
Auch „Wetten, dass..?“ ist in der Stadt
Scholz ist niemand, der in den Mittelpunkt drängt. Weder auf dem Fußballfeld noch auf der Bühne. Als Kanzler steht er trotzdem im Mittelpunkt, in der Messe, wo sich seit dem Vormittag die Delegierten auf dem Landesparteitag versammeln.
Einige Hallen weiter wird am Abend Thomas Gottschalk „Wetten, dass..?“ im Leoparden-Look moderieren und damit zehn Millionen Menschen vor den Fernseher ziehen. Wird der Kanzler auch dorthin kommen? Man fragt sich, niemand weiß es. Am Abend dann Klarheit: Er kam nicht.

Noch 2017 holte er das schlechteste Ergebnis aller stellvertretenden Bundesvorsitzenden der SPD, 2022 spricht der Hanseat als Regierungschef routiniert vor mehr als 500 Leuten. Die Menge jubelt in Halle B5. An die Cum-Ex-Affäre denkt heute keiner. Olaf Scholz als Motivator, Olaf Scholz als Rückenwind. Die Landespartei hat es nötig, sie liegt in den Umfragen gerade zwischen 13 und 15 Prozent – weit hinter Grünen und CDU.
In Friedrichshafen geht es harmonisch zu. Und dann auch wieder nicht. Es geht um Krieg und Energie. Und ein Stück weit rote Identität, den Mindestlohn. Scholz zeigt sich als Arbeitskanzler, der Regierungsbilanz zieht, aber auch staatsmännisch austeilen kann. Der mit Fäusten auf den Tischen über eine hochnäsige Union spricht.
Und Dinge sagt wie: „Fleißige Arbeit muss sich lohnen, lieber Herr Merz.“ Die Sozialdemokraten applaudieren, die Unterstützung ist dem Kanzler sicher.
Delegierte machen viele Selfies mit SPD-Kanzler
Wie groß sie ist, lässt sich nur wenig später am Andrang der SPD-Mitglieder ablesen. Da lässt Scholz in einem Pulk von roten Bindern und Anoraks hunderte Fotos über sich ergehen – und lächelt dabei sogar. Für ein Selfie muss man also SPD-Mitglied sein. Damit erschöpft sich die Volksnähe des Kanzlers aber.
Mehr Zeit hat er nicht, nicht einmal für die Journalisten, die ihm Fragen stellen wollen. Scholz schiebt sich von einer Station zum Auto zur nächsten Station, umringt von den Personenschützern, die ihn abschirmen.

Ähnlich gut scheint auch die Stadt abgesichert. An jeder Ecke, jeder Kreuzung ordnen sich Sicherheitskräfte. Wochen zuvor schon haben das Bundeskriminalamt und das Polizeipräsidium Ravensburg das Konzept erarbeitet. Bis der Kanzler dann am Samstagmorgen in Friedrichshafen landet.
Von dort geht es zunächst zum Automobilzulieferer ZF. Hier sammelt sich am Morgen eine Handvoll Schaulustiger, die auf die pechschwarze S-Klasse des Kanzlers wartet. So viel Optimismus muss sein, er ist vergeblich. Stehen bleibt der Kanzler nicht, nur für das Händeschütteln mit dem Vorstand. Auch hier ist der Zeitplan minutiös.
ZF-Chef spricht über Zukunft der Automobilindustrie
Bei ZF will sich der Regierungschef darüber informieren, wie sich die Mobilität verändert. Das Interesse dürfte in der Familie liegen – Scholz‘ Großvater war Eisenbahner. Was wird also aus der Mobilität und was aus der Zukunft? „Vom Zahnrad zum Halbleiter, das ist die Transformation“, wird ZF-Chef Wolf-Henning Scheider später sagen.
Er führt den Staatsbesuch durch die Turbinen und Motoren des Konzerns, der mittlerweile zu den führenden Herstellern von Elektromotoren gehört. Da steht Scholz dann, im Forum von ZF, bei Stoßdämpfern und Lineardämpfern, Hybrid-Technologie und All-Electric-Technologie und hört gut zu.

Bis der Kanzler plötzlich einen Joystick in der Hand hat. Station vier seines durchgetakteten ZF-Besuchs. Olaf Scholz will sich mit den Azubis über die Ausbildung im Konzern unterhalten. Sie zeigen ihm das ferngesteuerte Lastwagen-Modell, sie haben es selbst gebaut. Der Kanzler soll es testen und drückt munter drauf los, dabei fährt er fast eine Azubine an. Da muss auch der nüchterne Scholz kurz kichern.
Wie aber kommt der Kanzler an? Roman Kolb, 19, aus Tettnang sagt: authentisch. Der junge Mann absolviert gerade die Ausbildung zum Fachinformatiker bei ZF, er ist im zweiten Ausbildungsjahr. Gemeinsam mit den anderen Azubis konnte er den Staatsmann im persönlichen Gespräch erleben.
Der Kanzler zeige sich interessiert und habe fachlich gute Antworten, meint er. Beeindruckt ist auch Rebecca Neumann aus Friedrichshafen. Man hätte ihn alles fragen können, sagt die angehende Industriekauffrau. Sogar zur Rentenpolitik.

Die öffentliche Bilanz bei ZF wiederum bleibt trocken: „Wir haben die besten Aussichten, dass wir bei der Zukunft mitmischen können“, sagt Scholz nach dem Besuch. Und: „Man geht hier wieder weg mit großer Zuversicht.“ Der technologische Wandel sei keine Bedrohung, sondern eine Aussicht.
Allein also die Aussicht. Auf die kickenden Kinder in der Turnhalle des VfB, die so viel Spaß haben bei ihrem Sport. Scholz sieht ihnen am Nachmittag kurz vom Rand aus zu, stiehlt sich dann aber wieder in die andere Hälfte des Feldes, um mit dem Vereinsvorsitz und Trainern, Erwachsenen zu sprechen. Kurz darauf ist er weg.

David hat sich das anders vorgestellt. „Ich finde das doof“, sagt der Zehnjährige. Das tun viele der Kicker. Immerhin, die Autogrammkarten, die Scholz‘ Team wohl noch schicken lässt, spenden ein bisschen Trost. David will sie nicht. Er hätte mit dem Kanzler lieber über Fußball gesprochen. Zu Thomas Gottschalk kommt der übrigens nicht.