Herr Prietzel, landläufig nimmt man vom Mittelalter an, jeder habe jederzeit einem andern den Fehdehandschuh vor die Füße werfen können. War es wirklich so einfach, einen Konflikt vom Zaun zu brechen?
Gewalt anzuwenden, ist immer einfach. Aber es stellt sich die Frage: Inwieweit kann man so etwas machen, ohne dass es von der Gesellschaft oder von der Politik sanktioniert wird. Das ist in einzelnen Gegenden und Zeitabschnitten des Mittelalters sehr unterschiedlich.
Es existierte also ein Gefälle von gewaltsamen Zuständen und Konflikten?
Ja, allein deswegen, weil es Kriege gab, die wir auch im heutigen Sinne so nennen würden, weil sie ganze Landstriche dauerhaft verheert haben. Ich denke an den Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England (1337-1453, d. Red.), der in weiten Teilen Frankreichs zu einem wirtschaftlichen Niedergang führt und die öffentliche Ordnung außer Kraft setzt. Das waren allgemein sehr unsichere Zustände.
Die Könige versuchten also nicht, die Kriegshandlungen auf die Begegnung ihrer Heere zu begrenzen und die Bevölkerung hatte daher das Nachsehen?
Ja, das war sehr häufig der Fall. Die uns heute bekannte Trennung von Kombattanten und Nichtkombattanten setzte sich erst im Lauf des 18. und 19. Jahrhunderts durch. Im Mittelalter war es für die Kriegsführenden selbstverständlich, dass die Bevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Das Mittelalter dauerte etwa vom Jahr 500 bis 1500. Das sind auch 1000 Jahre Veränderungen und Wandel. Hat sich der Kreis derjenigen, die über Krieg und Frieden entschieden, gewandelt?
Sicher, aber man muss unterscheiden zwischen großen Kriegen, die Länder gegeneinander führten – Staaten im modernen Sinne gab es nicht – und jenen Konflikten, in denen einzelne Adlige oder ihre Familien versuchen, ihre Interessen mit Waffengewalt durchzusetzen, meist im Rahmen einer Fehde. Das allerdings wird zunehmend erschwert. Große Konflikte zwischen Königen, Herzögen und Fürsten bleiben. Doch sie enden immerhin oft in halbwegs dauerhaften, klaren Einigungen. Den Versuch, Dinge mit Gewalt zu regeln, gab es aber auch unter den Bauern, denn eine öffentliche Ordnung, wie wir sie kennen, fehlte noch.
Zwischen dem 9. Jahrhundert und dem 12. Jahrhundert kommt es zu Kriegen, die unterschiedlich motiviert waren. Zunächst die Sachsenkriege Karls des Großen mit dem Ziel der Missionierung zum Christentum, dann der Abwehrkrieg gegen die Ungarn unter Otto dem Großen sowie die Italien-Kriege der Staufer etwa unter Friedrich Barbarossa mit stark politisch-imperialer Grundierung. Ergibt sich daraus eine Typologie der mittelalterlichen Kriege?
Richtig trennscharf ist sie nicht. Auch Karls Missionskriege haben durchaus politische Hintergründe, die sich durch die Unruhe an der sächsischen Grenze erklären. Hier ging es um Sicherheit der Bevölkerung, das Ziel der Mission war eher zweitrangig. In den Italienkriegen Barbarossas haben wir in der Tat eine modernere Konstellation: Hier der Kaiser, der von seinen Untertanen Steuern verlangt, dort die italienischen Städte, die auf Selbständigkeit pochen, weil sie die Dinge seit einiger Zeit allein regeln.
Kriege endeten ja auch. Wurde dann – wie heute – ein Friedensvertrag gemacht?
Sagen wir es so: Man schließt eine Übereinkunft. Einen Vertrag im strengen Sinne, der beide Parteien nennt und ihre Bekundungen festhält, das gibt es erst spät, die Entwicklung beginnt im Zuge der steigenden Schriftlichkeit im 12. Jahrhundert. Für die Jahrhunderte davor sind wir auf Autoren angewiesen, die ihre Berichte verfasst haben. Von Bedeutung bei der Übereinkunft waren Rituale, etwa die Unterwerfung des Besiegten nach der Niederschlagung eines Aufstands. Das waren unterschiedlich gestaltete Zeremonien, bei denen ein Fußfall im Zentrum steht, bei dem der Unterlegene vor dem Sieger auf die Knie geht.
Der Repräsentant des mittelalterlichen Kriegers ist der Ritter. Er sitzt meist hoch zu Ross. Galt es als unehrenhaft, zu Fuß zu kämpfen?
Nein. Wir haben es mit einer an Normen gebundenen Welt zu tun, die mit den Fakten nicht immer in Einklang steht. Nehmen wir die Manager heute: Sie verbreiten heute das Bild des sportiven Machers. Aber genauso wie es heute Manager gibt, die ihre eigene Firma bestehlen, gab es auch Ritter, die keineswegs dem ritterlichen Ideal entsprochen haben. Die Inszenierung will den Ritter zu Pferd. Wird aber eine Stadt erstürmt, steigt er auf den Belagerungsturm, um auf der Stadtmauer zu kämpfen. Da kann man das Pferd nicht mitnehmen.
Ein Krieg war auch im Mittelalter teuer. Ausrüstung, Waffen, Verpflegung und Futter für die Pferde kosteten Geld . . .
Viele Kriege – und das war bis ins 17. Jahrhundert der Fall – enden, weil den Teilnehmern das Geld ausgeht. Dann setzt sich die Vernunft durch und man verhandelt. Die heutige Vorstellung, man einen Krieg sehr schnell gewinnt, wenn man alles richtig macht, kommt erst im Zug der Französischen Revolution und der Siege Napoleons auf. Dieses Denken wird dann im Ersten Weltkrieg ad absurdum geführt.
Wie groß waren die Heere, die man im Mittelalter auf die Beine stellen konnte?
Verlässliche Angaben geben uns erst die Soldlisten des 14. und 15. Jahrhunderts. Da kann ein Heer durchaus bis zu 30 000 Mann umfassen. Aber auch zuvor können die Truppen zahlreich sein. In Modellrechnungen geht man davon aus, dass etwa Karl der Große 10 000 bewaffnete Reiter mobilisieren konnte. Aber das ist das Maximum. Man sollte nicht glauben, dass eine Gesellschaft, die in recht einfachen Strukturen lebt, es nicht schafft, ein paar Tausend Menschen eines Heeres zu verpflegen. Kleiner geworden sind die Heere dann, weil sie länger im Feld gehalten wurden und verpflegt werden mussten.
Musste der Herrscher seine Männer bezahlen?
Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts werden Kämpfer nicht mit Geld bezahlt. Es gibt Leistungen für die Untergebenen wie freie Kost und Logis, die Aufsicht auf Beutemachen und sozialen Aufstieg oder auf Geschenke wie ein Pferd, das damals sehr wertvoll ist. Auch Waffen und Ausrüstung können Geschenke sein. Das klingt für uns heute zwar abstrus. Aber in dieser Zeit gilt es als Ehre, wenn man von seinem Herrn etwa ein Schwert als Geschenk erhält.
Konnten Herrscher die Kriegsführung auch an Untergebene delegieren?
Wenn möglich, führen die Fürsten ihre Kontingente selbst an. Das setzt körperliche Leistungsfähigkeit und eine militärische Ausbildung voraus. Es gibt aber auch Männer, die sich durch Leistung in Kommandostellen bringen, vor allem im Spätmittelalter, als sich Männer niederen Adels bis zum Heerführer hochdienen.
Die Ritter zu Pferd büßten schließlich an Bedeutung ein. Welchen Anteil hatten Kämpfer zu Fuß – etwa Schweizer Söldner – an dieser Entwicklung?
Entscheidend für den Ausgang einer Schlacht war weniger die Frage der Waffen oder die Rolle des Pferds, sondern vielmehr die Erfahrung der Truppen und ihre Ausbildung. Fußsoldaten, die das mitbringen, muss man sehr gut bezahlen. Diese Söldnerheere des Spätmittelalters vereinigen Männer aus unterschiedlichen Schichten – etwa Bauern, Handwerker, aber auch Studenten. Effektive städtische Aufgebote gibt es schon früher. Das sind Männer, die nicht für Geld, sondern für ihre Stadt, für ihre Interessen kämpfen. Das organisieren die Zünfte, die Zusammenschlüsse der Handwerker. Dadurch ist der soziale Zusammenhalt groß. Wer da im Kampf wegläuft, bekommt später Ärger. Bei einem zusammengewürfelten Haufen ist das anders.
Was passierte mit den Toten, die auf einem Schlachtfeld blieben?
Leichname gefallener ranghoher Adeliger wurden von ihren Gefolgsleuten geborgen und meist in die Heimat überführt. Man wollte Gefallene aus den eigenen Reihen anständig begraben und nicht einfach liegen lassen, auch weil man nicht wollte, dass es einem irgendwann selbst so ergeht. Allerdings konnten nur jene für Bestattungen sorgen, die das Schlachtfeld behauptet hatten, den Unterlegenen war das verwehrt. Ein Waffenstillstand konnte das ändern. Aber es gab auch Geistliche, die sich aus christlicher Pflicht heraus um die Beerdigungen kümmerten. Dann wurden die Toten, die keinen hohen Rang hatten, in Massengräbern beigesetzt. Diese sind also durchaus kein Phänomen allein des Ersten und Zweiten Weltkriegs.
Wofür, dachte der Ritteradel damals, ging man beim Kampf in den Tod? Für das Vaterland?
Nein, dieses Wort taucht erst zum Ende des Mittelalters auf, als gelehrte Übernahme aus dem Lateinischen. Man stirbt im Mittelalter nicht für das Vaterland, auch nicht für seinen König. Vielmehr stirbt der Adlige, weil er seine Pflicht als Adliger erfüllt – und das heißt: indem er tapfer kämpft. Und das ist halt riskant. Tapfer zu sein war Ehrensache – und brachte nach dem Tod bei den Standesgenossen posthumes Ansehen ein.
Fragen: Alexander Michel
Zur Person
Malte Prietzel, 53, ist seit 2014 Professor für mittelalterliche Geschichte an der Universität Paderborn. Nach seinem Studium in Göttingen und Paris lehrte er an den Universitäten München, Konstanz, Frankfurt/Main, Münster, Bochum und an der Berliner Humboldt-Universität. Der Schwerpunkt seiner Forschung liegt auf der mittelalterlichen Geschichte Deutschlands, Frankreichs und der Niederlande. Militär- und Kriegsgeschichte zählt ebenfalls zu seinen Fachgebieten, ebenso wie die Kirchen- und Konfessionsgeschichte. (mic)
Fünf historische Schlüssel-Ereignisse
Drei, drei, drei – bei Issos Keilerei. Die Älteren kennen diese Merksprüche aus der Schule. Schlachten und Jahreszahlen wurden abgefragt. Das ist heute anders. Dennoch sind in Kriegen und Schlachten Entscheidungen gefallen, die dem Lauf der Dinge eine andere Richtung gegeben haben. Vor allem im Mittelalter. Hier werden fünf denkwürdige Beispiele genannt:
- Tours und Poitiers, 732: In Westfrankreich besiegt das Heer der Franken unter ihrem Anführer (Hausmeier) Karl Martell zusammen mit Verbündeten Langobarden, Sachsen und Friesen ein arabisches Heer unter Abd ar-Rachman. Die Araber – auch Mauren genannt – ziehen sich auf die von ihnen eroberte Iberische Halbinsel zurück, ihre Expansion nach Norden ist dauerhaft beendet. Ihre blühende Kultur in Spanien endet erst mit der Eroberung Granadas durch die katholischen Könige im Jahr 1492.
- Lechfeld bei Augsburg, 955: Einen ähnlichen Nimbus wie Karl Martell erreicht Otto I., sächsischer Herzog und deutscher König (ab 962 Kaiser), durch den Sieg über das Reiterheer der Ungarn. Diese Horden – sie sind noch keine Christen – haben bei ihren Zügen nach Westen Landschaften verheert und die Bevölkerung terrorisiert. Die Niederlage auf dem Lechfeld beendet das. So nennt man Otto „den Großen“ und „Retter der Christenheit“.
- Hastings, 1066: An der südenglischen Küste wird der Grundstein gelegt für das, was heute England ist. Ein Invasionsheer der Normannen unter König Wilhelm, das aus Nordfrankreich übersetzt, besiegt Harald von Wessex, den König der Angelsachsen. Wilhelm bringt schließlich ganz England unter Kontrolle und etabliert eine normannische Führungsschicht. England rückt damit politisch näher an den Kontinent heran.
- Legnano, 1176: Diese Schlacht bietet sich für ein Kino-Epos an.
- Sempach, 1386: Dieses Ereignis ist aus zweierlei Gründen wichtig. Einerseits wurde damals im Kanton Luzern die Frage entschieden, wer das Sagen hat im Land: Die Eidgenossen oder die fremden österreichischen Habsburger? Andererseits steht der Sieg der Schweizer Fußtruppen mit ihren Lanzen und Hellebarden gegen die schwer gepanzerten Reiterverbände von Herzog Leopold (der fiel) für den Niedergang der vorwiegend adeligen Ritterheere des Hochmittelalters. (mic)