Fragen: Guy Simon

Frau Benecke, in Film und Fernsehen wird jeder Serienkiller pauschal als Psychopath bezeichnet. Was macht einen Psychopathen eigentlich aus?

Es ist ein typisches Vorurteil, dass jemand, der eine besonders grausame Tat begeht oder jemand, der auch Serienmörder ist, automatisch ein Psychopath wäre. Automatisch wären hingegen auch alle psychopathischen Menschen potenzielle Killer. Eigentlich hat diese Lust am Töten nicht zwangsläufig mit dem wissenschaftlichen Konstrukt der Psychopathie zu tun. Die ist eine Mischung von Eigenschaften, die bei wenigen Menschen in der Bevölkerung stark ausgeprägt zusammen auftreten. Diese Eigenschaften werden klassischerweise mit der Psychopathie-Checkliste von Robert Hare gemessen. Ein Mensch ist nicht entweder ein Psychopath oder kein Psychopath, er kann nur eine bestimmte Ausprägung auf der Checkliste haben. Umso stärker seine Ausprägung ist, desto stärkere psychopathische Eigenschaften hat er.

Was sind das für Eigenschaften?

Sie werden üblicherweise mit sehr egoistischem Verhalten verbunden. Das heißt, je stärker jemand psychopathisch ist, umso größer ist die Chance, dass er mehr an sich denkt, als an andere. Er hat kein großes Gewissensproblem damit, seine eigenen Bedürfnisse und Ziele über die anderer zu stellen und sie durchzusetzen.

Das klingt nach einem Egoisten. Was ist dabei die Besonderheit des Psychopathen?

Die meisten Menschen, das hat die Evolution so eingerichtet, damit wir in Gruppen zusammenleben können, haben innere Polizisten. Das sind automatisierte Gefühle, nämlich Schuldgefühl, Mitgefühl und Angst. Diese Emotionen sind wichtig. Wenn alle Menschen diese Emotionen nicht hätten, wäre ein soziales Zusammenleben nicht möglich. Das schlechte Gewissen, das eine sehr sinnvolle Emotion ist, haben psychopathische Menschen nicht wirklich. Auch die Angst vor einer Strafe ist vermindert, beziehungsweise gar nicht vorhanden. Daher fällt es ihnen viel schwerer, sich sozial verträglich zu verhalten. Das wiederum spiegelt sich in anderen Eigenschaften der Psychopathie-Checkliste wider. Dass die Leute immer wieder lügen, betrügen, andere Menschen ausnutzen. Es kann mit Straftaten einhergehen, es kann aber auch dazu führen, Menschen emotional abhängig zu machen und sie dadurch zu erpressen.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Ich habe in meinem Buch eine Mutter beschrieben, die ihre Kinder mit deren Liebe zueinander erpresst hat. Die Frau hat im Namen ihrer ältesten Kinder Bestellungen und Verträge mit unglaublichen Summen an Geld abgeschlossen, hat deren Unterschriften gefälscht und ihnen gesagt: „Wenn ihr mich anzeigt, dann kommen eure kleinen Geschwister ins Heim und das könnt ihr denen dann erklären.“ Damit hat sie es erfolgreich geschafft, ihre ältesten Kinder lange Zeit dazu zu bringen, ihre Betrügereien zu schützen. Natürlich ist hier auch schon eine kriminelle Komponente drin, aber gleichzeitig dieses emotionale Manipulieren.

Würde die Psychopathie der Mutter vor Gericht irgendeinen Einfluss auf die Schuldfähigkeit haben?

Psychopathie ist keine Krankheit im Sinne einer psychischen Erkrankung, wie etwa eine Depression. Wenn man sich die Eigenschaftsbestandteile der Psychopathie anschaut, ist sie eine Mischung aus anderen Persönlichkeitsstörungen. Man würde vor Gericht zuerst schauen, welche Persönlichkeitsanteile die angeklagte Person hat. Man würde dann beispielsweise sagen, dass die Person nach der Checkliste von Hare einen auffälligen Psychopathiewert hat. Eine Person kann sogar mehrere Persönlichkeitsstörungen gleichzeitig haben, die beeinflussen das Verhalten des Menschen natürlich stark. Aber nur weil so jemand in seinem Fühlen und Denken ein bisschen anders drauf ist, als andere Menschen, weiß er natürlich trotzdem, was eine Straftat ist. Eine verminderte Schuldfähigkeit würde bedeuten, dass sie entweder nicht mehr realisieren, dass sie eine Straftat begehen, oder das zwar realisieren, aber dieser Einsicht nicht folgend handeln können. Ob eine besonders schwer gestörte Persönlichkeit als Grundlage für verminderte Schuldfähigkeit gewertet wird, hängt sehr stark vom betreffenden Einzelfall ab.

Wenn Psychopathen emotional wenig fühlen, wie gleichen sie das aus?

Sie suchen gerne Kicks, um etwas zu fühlen. Es ist ungefähr so, wie wenn man Musik hört, aber eine Beeinträchtigung des Gehörs hat – dann würde man die Musik lauter stellen. Genauso stellen sie die Action in ihrem Leben intensiver ein, um überhaupt etwas zu fühlen. Das umfasst oft auch dissoziale Verhaltensweisen wie stehlen, lügen oder gewissenloses Verhalten. Solche Leute haben auch oft schon in verschiedenen Deliktbereichen Straftaten begangen, etwa Betrug, Körperverletzung oder auch Sexualdelikte. Allgemeine Impulsivität gehört auch dazu. Das heißt, wenn dieser Mensch etwas will, dann hat er ein großes Problem, seine Befriedigung aufzuschieben. Er wird dann schauen, sein Bedürfnis möglichst schnell zu befriedigen. In-teressant ist, dass es auch nicht-kriminelle Psychopathen gibt.

In Wirtschaft und Politik sollen viele zu finden sein...

Nicht ganz falsch. Man kann aber nicht sagen: Alle Politiker sind Psychopathen. Und auch nicht alle Menschen, die in der Wirtschaft arbeiten sind Psychopathen. Aber mit erhöhten Psychopathiewerten, wenn sie recht mutig sind, wenig Gewissensbisse haben und sehr rational entscheiden können, ohne sich von Gefühlen leiten zu lassen, haben sie natürlich in einigen Branchen Vorteile. Vor Kurzem hat die Uni Bonn eine Untersuchung herausgegeben. Man wollte zeigen, dass Psychopathiewerte nicht immer nur negativ sein müssen. Die positive Seite der Psychopathie nennt man auch furchtlose Dominanz. Wie der Name schon sagt, sind solche Menschen furchtlos und machen ihr Ding. Wenn sie sich sicher sind, dass ihr Ding das richtige ist, dann ziehen sie das auch durch. Auch wenn andere sagen würden, dass es risikoreich wäre. Wenn sie dabei fachlich und sozial kompetent sind, kann das ein Vorteil sein. Nicht nur für sie, sondern eventuell auch für die Firma.

Gibt es prominente Beispiele, die einen hohen Psychopathiewert aufweisen?

Es gibt eine Riesendebatte in der Wissenschaft, ob und falls überhaupt unter welchen Bedingungen man Ferndiagnosen stellen darf. Gerade bei der Trump-Wahl war das ein Thema, dass sich einige amerikanische Psychiater an die Goldwater Rule halten und andere nicht. Diese Regel besagt, man soll sich zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens prinzipiell nicht äußern. Sie ist allerdings auch nicht juristisch bindend. Es gibt aber Wissenschaftler, beispielsweise Kevin Dutton von der Oxford University, die versucht haben, Psychopathiewerte von historischen Persönlichkeiten zu ermitteln. Manche Experten sagen, man kann das theoretisch bei sehr bekannten Menschen, etwa Präsidentschaftskandidaten, schon tun, weil die sich ja in sehr vielen Kontexten öffentlich darstellen und äußern.

Was sagen Sie denn zu Donald Trump?

Bei Trump gab es die Diskussion, weil er über viele Jahre, auch bevor er so stark in den Fokus geraten ist, ein vielfältiges Verhalten an den Tag legte. Man kann bei einer Person, die öffentlich so viele Dinge tut und sagt, vorsichtig andeuten, dass einige dieser sehr auffälligen Merkmale, die man aus diesen Verhaltensweisen und Äußerungen ziehen kann, schon in eine gewisse Richtung weisen. Man kann sich natürlich auch fragen, ob alles eine wahnsinnig geniale Marketingstrategie ist, und dieser Mann seit etlichen Jahren so tut, als wäre er auffällig – oder er ist eben authentisch. Ich persönlich glaube nicht, dass man so ein Muster über Jahrzehnte so brillant vortäuschen könnte. Die Frage wäre auch, welchen Sinn das hätte.


Fragen: Guy Simon
 

Zur Person

Lydia Benecke wurde 1982 in Beuten (Polen) geboren. Sie studierte Psychologie, Psychopathologie und Forensik an der Ruhr-Universität Bochum. Seit 2009 ist sie als Diplom-Psychologin mit Arbeitsschwerpunkt im Bereich der Gewalt- und Sexualstraftaten tätig. Sie arbeitet in einer Ambulanz für Sexualstraftäter sowie einer Sozialtherapeutischen Anstalt (spezielle Form von JVA) mit erwachsenen Sexualstraftätern, Gewaltstraftätern sowie sexuell delinquenten Jugendlichen.Buchtipp: Beneckes Buch „Auf dünnem Eis – Die Psychologie des Bösen“ ist 2013 im Bastei Lübbe-Verlag erschienen (347 Seiten, 9,99 Euro). Darin erläutert sie das wissenschaftliche Konstrukt Psychopathie, rekonstruiert Verbrechen, erzählt von echten Fällen aus ihrer eigenen Praxis und wirft die Frage auf: Wie viel davon steckt in jedem von uns?

Lydia Benecke.
Lydia Benecke. | Bild: Guy Simon



 

Die Psychopathie-Checkliste

  • Robert Hare: Er ist ein kanadischer Kriminalpsychologe, der bei seiner Arbeit in Gefängnissen gemerkt hat, dass eine kleine Gruppe Insassen besonders viel Schaden anrichtete. Besonders dadurch, dass sie sehr gut manipulieren, sympathisch auftreten und gut reden konnten. Dann haben sie aber genau das Gegenteil von dem gemacht, was sie sehr plausibel und emotional überzeugend ihrem Gegenüber dargestellt haben. Das war schlecht, weil die oberflächliche Einschätzung dieser Menschen weit weg war von ihrem tatsächlichen Verhalten.
    Sie hatten häufig Rückfälle und verhielten sich schädlich. Hare sagte dann, man brauche ein Instrument, um diese Männer in Gefängnis-Stichproben identifizieren zu können. So hat er dann die Psychopathie-Checkliste entwickelt. Die Liste wurde mittlerweile schon mehrfach anhand neuerer Forschungserkenntnisse überarbeitet und aktualisiert.
  • Aufbau: Die Liste beinhaltet Ober- und Untermerkmalsbereiche und insgesamt gibt es 20 definierte Eigenschaften, wobei jeder Mensch pro Eigenschaft zwischen null, einem und zwei Punkten erhalten kann. Solche Eigenschaften sind etwa der Bedarf an Stimulation oder der Mangel an Reue und Verantwortungsgefühl. Maximal kann man also auf 40 Punkte kommen, das wäre ein hundertprozentiger Psychopathiewert. Es gibt nur sehr wenige Menschen, die das tatsächlich erreichen.
  • Durchschnitt: Bei einer Studie wurde der durchschnittliche Psychopathiewert männlicher Nordamerikaner ermittelt. Der Wert überschreitet nicht mehr als zehn Prozentpunkte. Zum Vergleich: Bei Gefängnis-Stichproben spricht man von einer deutlich ausgeprägten Psychopathie, wenn mehr als 75 Prozentpunkte auf der Liste erreicht sind.
  • Auswertung: Die Liste basiert nicht ausschließlich auf den Eigenauskünften einer Person. Ein psychopathischer Mensch wird im Gespräch nämlich eine Version seines Lebens schildern, die faszinierend ist, mit der Realität jedoch nur Berührungspunkte aufweist. Die Selbstauskunft ist nur ein Aspekt. Aufgrund möglichst vieler Informationsquellen, etwa aus den Akten eines Straftäters, wird der Wert erstellt. Subjektive Darstellungen müssen mit den objektiven Fakten verknüpft werden, um den Wert zu errechnen. (guy)