Die Wanderin aus Köln ist überzeugt: „Das hier ist ein besonderer Ort“, sagt sie und nimmt ihren Rucksack von den Schultern. Wir stehen am Tisenjoch auf 3200 Metern Höhe, unmittelbar an der Grenze zwischen Österreich und Italien. Die Sicht auf zig vergletscherte Gipfel der Ötztaler Alpen an diesem sonnigen Spätsommer-Morgen ist überwältigend. Ja, wiederholt die Frau, das sei schon eine mystischer Ort: „Weil man ihn hier gefunden hat.“
Sie meint Ötzi, wie die 5300 Jahre alte Gletschermumie heute allgemein genannt wird. An der Stelle, an der er lag, steht heute ein steinernes Denkmal. In den Sommermonaten kommen täglich Bergwanderer hierher. Manche gehen noch 15 Minuten weiter zum benachbarten, etwas höher gelegenen Hauslabjoch. Viele, die zum Ötzi-Denkmal kommen, sind auf dem Fernwanderweg E5 von Oberstdorf nach Meran unterwegs. Die meisten Gruppen nehmen den Umweg zur Gletschermann-Fundstelle, wenn sie von der Martin-Busch- zur Similaunhütte laufen.
In diesem Monat werden wohl noch mehr Wanderer zum Tisenjoch pilgern. Denn der Ötzi-Fund jährt sich zum 25. Mal. Zum „Iceman“-Jubiläum bieten die Touristiker beispielsweise eine „Ötzi Glacier Tour“ zur „Original-Fundstelle“ an. Und es gibt die „Ötzi 25-Vorteilskarte“. Die ist in vielen Hotels und Pensionen kostenlos erhältlich oder beim Tourismusverein im nahen Schnalstal. Der Höhepunkt der Jubiläums-Feierlichkeiten soll in zwei Wochen, am 17. und 18. September, stattfinden. Da gibt es in der Schnalstaler Gemeinde „Unser Frau“ ein Musikfestival. Wie dessen Motto heißt? Natürlich „Ötzi 25“.
Die ganze Geschichte – zumindest der neuzeitliche Teil – beginnt am 19. September 1991, einem Donnerstag. An diesem Spätsommertag steigt das Nürnberger Ehepaar Erika und Helmut Simon von der nahe am Tisenjoch gelegenen, 3516 Meter hohen Fineilspitze ab. Etwas abseits der üblichen Route queren sie ein Schneefeld.
„Da habe ich dann was Braunes liegen sehen“, erzählte Helmut Simon, damals 53, später. Es ist ein menschlicher Körper, der aus dem Eis ragt. Deutlich zu erkennen sind Kopf, Schulter und Rücken. Zunächst vermutet das Ehepaar, dass sich um einen verunglückten Bergsteiger handelt und informiert den Wirt einer nahe gelegenen Hütte. Einen Tag später beginnt die Totenbergung unter Regie der österreichischen Gendarmerie. Noch ahnt niemand, um welch sensationellen Fund es sich handelt.
Der Urmensch war 46 Jahre und hatte blaue Augen
Eine altertümliche Axt, die bei der Leiche lag, wird vorübergehend zum Gendarmerieposten ins Tiroler Sölden gebracht. Sie soll Aufschluss darüber geben, wie alt der Fund ist. Bei der Leichenbergung zerreißt die Hose des Toten teilweise. Eine Birkenrindentasche wird stark beschädigt. Darin hatte Ötzi das Feuer transportiert – luftdicht war die Glut in Ahornblätter verpackt.
Unter den vielen Schaulustigen, die in den folgenden Tagen zur Fundstelle hinaufsteigen, sind auch die Südtiroler Extremalpinisten Hans Kammerlander und Reinhold Messner. Die beiden befinden sich auf einer Rundtour durch die Südtiroler Berge. Messner ist es, der als erster den archäologischen Wert erkennt: Er schätzt, dass die Gletschermumie dort mehr als 2000 Jahre gelegen hat. Einige Tage später wird die Leiche vom Tisenjoch auf den Namen „Ötzi“ getauft und in das Institut für Früh- und Vorgeschichte der Innsbrucker Universität gebracht. Archäologieprofessor Konrad Spindler datiert den Fund auf ein Alter von 5300 Jahren – die Axt aus der Kupferzeit ist ein entscheidendes Indiz.
Mehr als 600 Einzeluntersuchungen folgen, bis die Wissenschaftler in der Lage sind, ein Bild von Ötzi zu skizzieren: Der Urmensch war 46 Jahre, hatte blaue Augen, dunkelbraunes bis schwarzes Haar und Schuhgröße 37/38. Er war 1,60 Meter groß und 50 Kilogramm schwer. Heute würde man sagen: Idealgewicht. Doch um Ötzis Gesundheit war es nicht zum Besten bestellt: Er soll unter massiven Verkalkungen der Hauptschlagadern gelitten haben, ein Zeh war erfroren. Zudem wurden Verschleißerscheinungen an Rücken und Knien diagnostiziert, Magen und Darm waren offensichtlich von Parasiten befallen. Ebenso zeigte die Analyse seines Erbguts, dass der Steinzeitmann an einer Herz-Kreislauf-Erkrankung und an Laktose-Intoleranz litt.
Und doch bleiben Fragen. Zum Beispiel, woher Ötzi kam. Wahrscheinlich aus dem Süden. Denn seine mitgeführten Steinwerkzeuge stammen, wie sich später herausstellt, aus Steinbrüchen im Gardasee-Gebiet. Und an Pflanzenresten fanden Botaniker Spuren von Vegetation in den Südalpen. Doch die Wissenschaftler gehen davon aus, dass er die letzten Monate seines Lebens im Südtiroler Schnalstal verbracht hatte. Von dort kann man in wenigen Stunden zum Tisenjoch aufsteigen. Aber: Wie kam Ötzi ums Leben? Wurde er etwa umgebracht? Dafür spricht einen Schatten im Bereich der linken Schulter, den Wissenschaftler 2001 bei Röntgenuntersuchungen der Leiche entdeckten. Demnach soll ein Pfeil den Mann von hinten getroffen haben. Ist Ötzi also ein Mordopfer? Mitten in den Bergen? Ist er vor seinem Mörder geflohen und war er durch den Blutverlust so geschwächt, dass er starb? Oder fiel er bei der Flucht in eine Gletscherspalte? Das alles sind Fragen, die wohl nie geklärt werden.
4,5 Millionen Menschen aus aller Welt haben Ötzi bisher in Bozen besucht. Inzwischen kommen jährlich 250 000 Gäste. Ein Ersatzquartier wird dringend gesucht. Deshalb ist man seit geraumer Zeit auf der Suche nach einem Ersatzquartier. Bozens Bürgermeister Renzo Caramaschi ist optimistisch, dass eine Lösung gefunden wird. Im Gespräch sind das Stadtmuseum und eine angrenzende Immobilie, deren Erwerb aber noch nicht gesichert ist. Auf jeden Fall aber wäre das neue Museum sechs Mal so groß wie das bestehende. Mitte September sollen erste Gespräche über den Immobilienerwerb stattfinden.
An der Ötzi-Fundstelle hat die Wanderin aus Köln ihren Rucksack wieder geschultert. Zusammen mit ihrem Begleiter läuft sie weiter in Richtung Similaun-Hütte. Der Rucksack ist jetzt ein klein bisschen schwerer als zuvor. Die Frau hat einen Stein vom Tisenjoch mitgenommen. „Eine Erinnerung an einen besonderen Ort“, sagt sie.
Schon gewusst?
Ein 2002 beim Campingplatz Allensbach am Bodensee entdeckter Dolch gilt als archäologische Sensation. Der perfekt gearbeitete Feuersteindolch ist eine Rarität. Ein ähnlich gut erhaltenes Exemplar war nur bei der Gletschermumie Ötzi gefunden worden. (dba)
Vom Ötzi zum Steinzeit-Mensch
- Wurde Ötzi wirklich ermordet? Wenn man davon ausgeht, dass die Gletschermumie ermordet wurde, dann muss der Schütze am Berghang ein Stück unterhalb und hinter dem Mann gestanden haben. Sein Pfeil muss das Opfer jedenfalls schräg von unten in die Schulter getroffen haben. Dafür spricht ein dort entdeckter, dunkler Schatten. Der Pfeil verletzte möglicherweise eine Schlagader, woraufhin der Mann verblutete. Vielleicht stürzte er nach dem verhängnisvollen Schuss auch, schlug mit dem Kopf auf einen Felsen und starb an einem Schädelbruch? Oder der Schütze hat sein Opfer nach dem Treffer erschlagen? Exakt rekonstruieren konnte ein möglicher Mordfall Ötzi noch nicht.
- Wie wird die Mumie konserviert? Ötzi liegt bei minus sechs bis minus sieben Grad Celsius in einer Kühlkammer, in der er von Besuchern des Museums bestaunt werden kann. Allerdings verdunsten jeden Tag ein bis zwei Gramm Wasser aus der Gletschermumie. Um diesen Verlust auszugleichen, wird Ötzi alle ein bis zwei Monate aus seinem tiefgekühlten Klarsicht-Sarg geholt und mit sterilem Wasserdampf besprüht. Auf der Mumie bildet sich so eine dünne Schicht aus Eis und ein Teil des versprühten Wassers dringt in den Steinzeitmann ein und gleicht den Verlust wieder aus. Eine Dauerlösung ist das natürlich nicht und die Forscher suchen dringend eine Möglichkeit, Ötzi langfristig zu konservieren, ihn aber gleichzeitig weiter ausstellen zu können.
- Wem gehört die Leiche? Da der Gletscher, in dem Ötzi lag, auf der Grenze zwischen dem österreichischen Tirol und der italienischen Provinz Südtirol liegt, entbrannte zunächst ein heftiger Streit, auf welchem Staatsgebiet die Fundstelle liegt. Da die Mumie auf der österreichischen Seite der Wasserscheide lag, wurde sie zunächst nach Innsbruck gebracht und dort bis 1998 auch untersucht. Eine genaue Vermessung zeigte aber bald, dass Ötzi 92,56 Meter weit auf italienischer Seite lag. Daher wurde der Steinzeitmann 1998 in die Hauptstadt Südtirols Bozen überführt und wird dort im Archäologiemuseum ausgestellt. (rhk)
Der SÜDKURIER vom 25. September 1991:
Dateiname | : | So berichtete der SÜDKURIER über den Ötzi-Fund |
Datum | : | 07.09.2016 |
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