Wie jeder weiß oder spürt, geht der Riss heute durch die Familien. Es gibt überall in der deutschen Gesellschaft die Menschen, die sich dem russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine stellen. Und es gibt die Menschen, die gedanklich in der Vorkriegszeit verharren. In einer Epoche, die in Deutschland vor allem eine scheinhaft sichere, eine illusionär friedliche Nachkriegsgesellschaft war. In der man sich hauptsächlich um seinen Wohlstand zu kümmern hatte, aus dem immer wieder nicht wenige heraus gefallen sind. Das war Sorge, Anstrengung und Kampf genug.

Der Kernpunkt der fundamentalen Meinungsverschiedenheit, die uns gegenwärtig spaltet, betrifft den Charakter des Putin-Regimes. Für eine erhebliche Minderheit der Deutschen ist der russische Präsident – bei allen gravierenden Unterschieden, bei aller historischen Spezifik, die auch niemand übersieht – eine weltpolitische Figur in der Kategorie Adolf Hitlers. Politisch und moralisch nicht erreichbar. Die nur entmachtet werden kann. Für schwankende Mehrheiten von uns ist Putin hingegen ein auf verheerende Abwege geratener Politiker unter Politikern – alle wie sie da sind: fragwürdig, unberechenbar, tendenziell verbrecherisch. Er kann und muss mit internationalem Druck und, wie schon Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron sagte, unter Verzicht auf jegliche Demütigung zu Friedensverhandlungen gebracht werden.

Die Rede ist hier nicht von Alice Schwarzer und und anderen Autoren, Denkern, Intellektuellen, die sich im vermeintlichen Interesse des Friedens, der überaus dringlichen, nicht länger verschiebbaren Wiederherstellung des Friedens, öffentlich gegen Waffenlieferungen an die Ukraine aussprechen. Wir sprechen hier vielmehr von den unzähligen Stillen im Lande. Was ist, wenn uns dieses zählebige unbelehrbare, widerständige Weltbild bei unseren Nachbarn, im engsten Freundeskreis, bei unseren Lieben begegnet? Oder vielmehr anspringt? Sagen wir: auch noch in der fatalen Zusammensetzung aus einem Pazifismus, der spätestens seit Februar 2022 tot ist, und einem sozialpolitischen Anstand, einem Gerechtigkeitsdenken, das hoffentlich noch lange nicht tot ist?

Dann wird es schwierig. Man wird sich sein Alltagsleben und sein soziales Netz kaum zerreden, zerstreiten, kaputt machen wollen. In dieser Situation sei hier ein Gedanke gewagt, so dubios und befremdlich er auch klingen mag: Das besagte Weltbild hinnehmen. Sich selber eingestehen, dass es eben Positionen, Haltungen gibt, die sich als unüberwindlich erweisen. Egal wie verloren, wie hoffnungslos realitätsfern sie sind. Oder inzwischen geworden sind. Einräumen, dass ein schon in der Jugend angeeigneter, lebenslang festgehaltener, gelebter Pazifismus vielleicht nicht mehr aufgegeben werden kann.

Das passt zwar nicht zu unserem maßgebenden, alles tragenden Ideal der Wahrheitsliebe und Integrität. Das in schockierenden und überwältigenden Umbruchzeiten wie diesen aber nicht immer durchzuhalten sein mag. Jedenfalls nicht unbesehen von jedermann eingefordert werden kann. Keinesfalls auf Biegen und Brechen: Entweder du orientierst dich neu, oder wir sind geschiedene Leute.