Die vermeintlichen Faschisten in Kiew sind schon einigermaßen verblasst. In der Kriegsrhetorik des Kreml stehen sie bereits im Schatten des „kollektiven Westens“. Der ja auch die militärische Schwäche Russlands in der Ukraine besser zu erklären vermag als die Geschichte von der Überwältigung und Verseuchung des Brudervolks durch alt-neue Nazis aus der dunklen Tiefe der ukrainischen Geschichte. Die endzeitliche Konfrontation mit den USA und ihren europäischen Anhängseln passt für alles weit besser: für die entsetzlichen Verluste an Menschen in diesem Krieg wie für die Rechtfertigung der Diktatur im eigenen Land.

Sie ist der Schlüssel zum Verständnis der Situation, den die Volksmassen in Putins Vielvölkerstaat überreicht bekommen. Und den sie auch brauchen, wenn sie durchhalten und sich politisch weiter unterwerfen sollen. Politischer Konformismus kommt nicht aus dem Nichts, er bedarf einer gedanklichen Basis, eines Sinnangebots. Um ein Wort von Hannah Arendt über die Deutschen unter Hitler aufzugreifen: Unter Erwachsenen gibt es keinen Gehorsam, nur Zustimmung.

Langsam – und wesentlich vermittelt über die Stimmen aus Russland und Osteuropa, wie sie inzwischen auch in unsere lange abgeschottete deutsche Provinz dringen – fragt man sich: Warum kann die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg eine so außerordentlich tragfähige ideologische Ressource für das Putin-Regime sein? Es waren dies Jahre, in denen die sowjetischen Menschen die Anerkennung und Hochachtung der ganzen Welt erfahren haben. Ihr einzigartiger Beitrag zur Menschlichkeit in einem unmenschlichen Jahrhundert war nicht nur für sie selbst und ihre Nachfahren unvergesslich. Mit ein wenig gutem Willen kann jeder verstehen, dass der Stolz auf diese Menschheitsleistung in der aktuellen internationalen Ausgrenzung und Ächtung Russlands einen Halt bieten kann.

Aber was musste alles geschehen, damit die Erinnerung sich in eine blinde Nostalgie verwandeln konnte? Aus der heraus Menschen, deren Familien einmal die Opfer des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion gewesen sind, heute einen Vernichtungskrieg gegen ein anderes Land mittragen? Und es sich selbst gegenüber rechtfertigen können, diesmal als die Verfolgten einer fiktiven, erlogenen Verschwörung, als die ewigen Opfer der modernen Weltgeschichte? Fast so, als ob das Opfer von einst den Täter und Verbrecher von heute unkenntlich machte, löschte, verschluckte.

Die Opfer des deutschen Aggressors waren auch Opfer des Stalinismus. Wo ist diese Dimension der erlebten Vergangenheit, der sich Memorial und andere russische Menschenrechtsaktivisten unbeugsam angenommen haben, geblieben? Wenn wir als Zeitzeugen dieses Krieges nicht immer nur auf Putin starren wollen, wäre das eine der Fragen, die wir uns stellen sollten. Wie kann eine Erinnerungskultur so deformiert, verstümmelt, so zerstört werden, wie es die russische ist? So kaputt gemacht, dass eine Zivilgesellschaft sich nicht entfalten kann. Wie es der russische Schriftsteller Andrej Kulkow sagt: Die Verbrechen des Gulag sind hier „kein Trauma“. So wird Russland „bis heute von seiner stalinistischen Vergangenheit in Geiselhaft gehalten“.

Der Verfasser war Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz