Der defensive Putin ist weg. Selbst wir Deutschen mit unserer schon speziellen Mischung von Wirtschaftsinteresse, Vergangenheitsbewältigung und einer stillschweigenden Realpolitik können den Aggressor jetzt nicht mehr verleugnen. Auf einmal sehen auch wir die Kontinuität der Kriegsverbrechen von Grosny über Aleppo bis zu Mariupol und Charkiw. Aber sonst ist nach wie vor alles strittig.

Es ist eine offene Frage, was Putin selbst glaubt von all dem, was er an Weltbildern in die Welt setzt. Was ist dran an dem viel beschworenen Imperialgedanken: geboren aus dem Trauma des Zusammenbruchs der Sowjetunion, nostalgisch inspiriert von Ruhm und Macht des Russischen Reiches, versetzt mit Stalinkult?

Wer ist Putin?

Putin: der Autodidakt großrussischer Geschichtspolitik? Oder Putin nicht doch eher der Nichts-als-Geheimdienstler, der in seiner politischen Karriere nie irgendeiner Ideologie gefolgt ist, sondern sich aus dem reichen Angebot Russlands jeweils nur das ihm machtstrategisch brauchbar Erscheinende herausklaubt? Nichts davon authentisch.

Alles Müll, Kulturmüll – zum Narrativ drapiert und aufgemotzt. Und mit aller Staatsgewalt über die Kontrolle der Massenmedien durchgesetzt. „Nichts ist wahr und alles ist möglich“ lautet der Titel eines hellsichtigen Buches über Putin-Russland (Peter Pomerantsev, 2015). Die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit gibt es danach für dieses Regime gar nicht.

Ein Abwehrkampf

Auch die inflationär bemühte Dekadenztheorie vom Westen wäre dann nichts als eine zynisch errichtete Kulisse. Was Putin antreibt, wäre dann kein wahnhaftes Geschichtsbild, das von Ursprungsmythen lebt. Es wäre immer nur eines: die Angst einer Gewaltherrschaft vor der eigenen Gesellschaft. Wie sie sich nach innen spätestens seit 2012 schon in einer fortschreitenden Systemveränderung mit Richtung auf Staatsterrorismus und totale Macht manifestiert hat.

Die Angst des Despoten davor, dass die politischen Umbrüche in der Nachbarschaft: in Georgien, in Weißrussland, in Kasachstan und – allen diesen postsowjetischen Staaten voran – in der Ukraine auch einmal Russland erreichen und erfassen könnten. Der Krieg gegen die Ukraine wäre dann der Abwehrkampf, der vorgezogene Existenzkampf eines politischen Regimes, das seinen drohenden Untergang abliest.

Aber wenn es so ist, dann müssen wir dem ukrainischen Präsidenten zuhören. Statt ihn vor eine mentale Wand laufen zu lassen. Dann hat unser Kanzler in der Konfrontation mit dem Krieg viel gelernt, aber noch nicht genug. Und wir als einfache Bürger auch nicht.

Dann hat unser Wirtschaftsminister mit der Ablehnung eines sofortigen Abbruchs unseres Öl- und Gasimports aus Russland eine Entscheidung getroffen, die wir nicht verantworten können.

Dann kann die Nato nicht bei ihrer Politik der Risikoverminderung bleiben und muss jetzt die von Kiew geforderte Flugverbotszone verhängen. Nicht einmal, weil es sonst zu spät sein und der nächste Staat dem entfesselten Verbrecherregime zum Opfer fallen könnte. Sondern allein wegen der Ukraine. Wegen der Schande des Zuschauens. Die uns als Westen aufhebt.

Der Verfasser ist Historiker und lebt in Konstanz. Er hat als Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz gelehrt.

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