Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist das grundlegende Ereignis unserer Zeit. Er verbreitet nach allen Seiten ein durchdringendes Licht. Er zeigt, wer Putin ist. Er enthüllt, was das postsowjetische Russland aus sich gemacht hat. Er offenbart in der Ukraine, wie aus einem unfreien, in Jahrzehnten autoritär und totalitär deformierten, durch und durch korrupten Land eine freiheitsbewusste Nation und eine unbeugsame Zivilgesellschaft wird. Und er beweist schließlich – fast schon wider Erwarten -, dass der Westen eine Zivilisation ist und nicht nur ein kapitalistischer Machtblock, der selbst der Zerstörung eines ganzen Landes gleichgültig zuschaut, wie in Syrien nach 2011. Nur wenn wir uns diesen dramatischen Schub an Klarheit, an faktischer, empirisch nachweisbarer Wahrheit vor Augen halten, verstehen wir, warum dieser Krieg immer noch andauert.

Angeblich will Putin ein großes Reich errichten oder „wiederherstellen“. Das ist es, was er die ganze Zeit über sagt. Hält man sich an das, was er tut, so kämpft er um seine bereits gefährdete, erodierte Macht im eigenen Land. Wäre er wirklich der Erneuerer eines Imperiums, verhielte er sich strategisch souveräner, innovativer, beweglicher, und man könnte unter Umständen mit ihm verhandeln. Wie es einigen politischen Führern des Westens ja auch hartnäckig vorschwebt. Aber wie es aussieht, ist Putin außerstande, aufzuhören.

Es wird hier deutlich, woher er stammt. Er kommt politisch wie mental aus dem Gulag. Aus der verbrecherischen Halb-und Unterwelt der Sowjetunion, die nicht erst mit Stalin kam. Gewalt, Gewaltherrschaft ohne jede Grenze, die totale Verfügung über den Menschen ist auf dieser Ebene des Machtsystems Selbstzweck. Nicht nur ein eisiges, skrupelloses Instrumentarium, Mittel im Dienste höherer Ziele und weittragender Projekte. Es gibt keine Perspektive, keinen Horizont dieser Art. Es war auch nicht nötig. Es ist eine geschlossene, um sich selbst kreisende Welt, blicklos, ohne Ansatz von Realpolitik, ohne Sinn und Fähigkeit für fällige Anpassungen und Korrekturen, aus der Putin kommt und die er nicht zu verlassen vermag.

Putin muss entmachtet werden. Aber das muss von innen kommen

Er muss von der Macht entfernt werden. Der Freiheitskampf der Ukrainer ist der Ausgangspunkt, die geistige Basis für einen solchen Umbruch; die anhaltende, umfassende Unterstützung der Ukraine durch den Westen die unerlässliche Bedingung. Aber Russland fehlt in diesem Bündnis. Die russische Gesellschaft schweigt nach wie vor. Dieser Krieg muss inzwischen die breite Masse der russischen Bevölkerung belasten, beinträchtigen und verunsichern. Er muss die Familien der mehr als 100 000 gefallenen russischen Soldaten mit Trauer erfüllen. Oder auch mit Wut und Hass.

Das stellt uns vor die Frage, was wir überhaupt vom Denken, vom Verhalten, von der Haltung des russischen Normalbürgers wissen. Was für eine – zumindest äußerliche – Bewegungslosigkeit ist das, was für ein Abwarten oder Hinnehmen oder Wegducken? Was ist hier Angst vor dem allgegenwärtigen Terror des Staates; was trotz allem immer noch irgendeine Zustimmung zum Krieg; was Lethargie oder Fatalismus? Klar ist: Die Entmachtung des Staatschefs muss von innen kommen. Oder sie kommt gar nicht.

Der Verfasser war Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz

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