Nicht nur der Bundeskanzler hat den Überfall Russlands auf die Ukraine zunächst als den Krieg eines einzigen Mannes bezeichnet. Viele von uns haben es zuerst einmal so gesehen. Die Unterscheidung von Regierung und Volk gehört zum Minimalstandard jeder politischen Analyse. Und hier handelt es sich um ein Herrschaftssystem der autoritärsten, repressivsten Sorte. Und dann mag uns auch die eigene Geschichte im Wege gestanden haben: Jeder aufgeklärte Deutsche weiß, dass die große Mehrheit der Deutschen bis ganz zuletzt hinter Hitler stand. Aber das ist unsere Art der Vergangenheitsbewältigung. Wer hätte sie schon auf die Russen von heute übertragen, sie ihnen gleichsam überstülpen wollen? Einem Land, einer Bevölkerung, einer Nation, von der wir als deutsche Durchschnittsbürger bisher kaum etwas wissen?

Dennoch: Das Schweigen, das wir uns da auferlegt haben, die nur allzu verständliche Scheu, sich über eine unbekannte Gesellschaft auszulassen – und ihr auch noch bohrende, schonungslose Fragen zu stellen, ist nicht haltbar. Es ist eine Form der Drückebergerei oder der Tabuisierung. Es ist die Stunde der Osteuropa-Historiker, die uns zeigen können, dass Putin in Russland nicht isoliert ist und nicht ohne breite nationale Legitimationsbasis handelt. Gewissermaßen vor einem in politischer Nichtigkeit, geistiger Abwesenheit und Leere erstarrten Publikum.

Das Erbe des russischen Kolonialreichs

Alle die Versatzstücke von historisch weit ausholender Rechtfertigung, die das Putin-Regime aufbietet, stammen aus der sich zunehmend ideologisch und religiös aufladenden Machtpolitik des russischen Kolonialreiches seit den Teilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts. Ob nun das verfließende Bild von einer russisches Nation, die geradezu schicksalhaft auch ein Imperium über andere Völker ist. Oder die dämonische Fratze eines Westens, der dieser imperialen Nation seit jeher feindlich gesonnen ist und sie nach Möglichkeit zu vernichten sucht. Es waren ja nicht nur Netzwerke von Intellektuellen, die so dachten und schrieben. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es auch in Russland eine entfesselte Medienlandschaft, eine politische Massenmobilisierung, moderne Parteien.

Es ist Putins freie Wahl

Das sind die Karten, die Wladimir Putin heute wieder spielt. Nichts zwingt ihn dazu. Er bewegt sich in einer suggestiven Kontinuität, nicht in einem Zwangszusammenhang. Es gibt hier keine unentrinnbare Pfadabhängigkeit. Es ist „seine freie Wahl“, wie der Münchener Historiker Martin Schulze Wessel sagt. Uns bleiben nur Fragen: Wie viel Macht hat das gespenstische, untote Erbe einer Kolonialherrschaft in Europa immer noch über das Selbstverständnis einer Mehrheit von Russen? Diese labile, auch explosive Zerrissenheit zwischen Selbstüberhebung und Minderwertigkeitsgefühlen im Verhältnis Russlands zu Europa? Angesichts der Aussichtlosigkeit und Wahnhaftigkeit des ursprünglichen Machtziels in der Ukraine? Unter dem Druck eines Scheiterns, das selbst den Verlust der 2014 besetzten Krim nicht mehr als unmöglich erscheinen lässt?

Und ganz unklar: Was könnte der Westen dazu beitragen, dass die Russen sich politisch neu erfinden, als eine normale Nation unter Nationen – mit der universalen Sorge und Aufgabe, sich selbst weiterzuentwickeln?

Der Verfasser war Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz.