Nirgendwo in Afrika klaffen Anspruch und Realität weiter auseinander als in Nigeria, dem mit rund 181 Millionen Einwohnern bevölkerungsreichsten Staat des Kontinents. Seit das Land vor drei Jahren seinen Erzrivalen Südafrika zumindest zeitweise als größte Volkswirtschaft in Afrika überholte, malen Unternehmensberater und Politiker Nigerias Potenzial in schillernden Farben. Mehrfach hat das Land das seit seiner Unabhängigkeit 1960 Versäumte mit Macht nachholen wollen: 2003 verstieg sich die damalige Regierung sogar zu einem Raumfahrtprogramm, das Nigeria aus der Stagnation in die Moderne katapultieren sollte. Angesichts der gegenwärtigen ökonomischen Befindlichkeit wirkt der Anspruch des gerade von Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) bereisten Landes, als Impulsgeber für den ganzen Kontinent zu fungieren, wie Größenwahn.
Mit dem Absturz des Ölpreises vor zwei Jahren und dem damit verbundenen Niedergang der Wirtschaft ist deutlich geworden, dass die Realität eine ganz andere ist, schon weil das Land es versäumt hat, seine vom Öl abhängige Wirtschaft auch nur ansatzweise zu diversifizieren. Die Halbierung des Ölpreises hat das Land, dessen Staatseinnahmen noch immer zu 75 Prozent vom Öl abhängen, tief getroffen. Erschwerend kommt hinzu, dass derzeit nur noch etwa 1,4 Millionen Barrel Öl am Tag produziert werden – fast ein Drittel weniger als noch vor zwei Jahren. Ein Grund sind die Sabotage-Akte militanter Gruppen im Niger-Delta. Und: Die Raffinerien sind derart marode, dass der weltweit achtgrößte Ölproduzent auf teure Importe angewiesen ist.
Nach einem Wachstum von fast sieben Prozent vor zwei Jahren prognostiziert der Internationale Währungsfonds in diesem Jahr ein Schrumpfen der nigerianischen Wirtschaft von bis zu zwei Prozent. Das wäre die erste ganzjährige Rezession seit 1991. „Die gesamte Wirtschaft wird von der Öl-Industrie brutal nach unten gezogen“ sagt John Ashbourne von Capital Economics in London. Inzwischen ist die Landeswährung Naira hinter Venezuelas Bolivar die weltweit schwächste Währung.
Angesichts des wirtschaftlichen Niedergangs hat die 2015 gewählte Regierung von Ex-General Muhammadu Buhari eine stärkere Diversifizierung der Wirtschaft versprochen. Fortan soll mehr Geld in die vernachlässigte Landwirtschaft und die marode Infrastruktur fließen. Das nötige Kapital dafür will die Regierung an den derzeit kaum an einem Engagement interessierten Finanzmärkten aufnehmen. Vor der angestrebten Trendwende steht dem Land nach Ansicht von Experten ein langer, schmerzhafter Anpassungsprozess mit Inflationsraten von mehr als 20 Prozent und vermutlich viel politischer Unruhe ins Haus. Das könnte auch die Flüchtlingsströme nach Norden verstärken.
Der Aufholbedarf in Nigeria ist groß, vor allem in der Stromversorgung. Obwohl das Land fast so viele Einwohner wie Brasilien hat, erzeugt Afrikas größte Volkswirtschaft nur vier Prozent des von Brasilien generierten Stroms und hat deshalb kaum eine Chance, schnell zum Rest der Welt aufzuschließen.