Berlin – Noch steht nicht einmal fest, ob die SPD überhaupt Verhandlungen mit der Union zur Fortsetzung der Großen Koalition aufnimmt. Doch Bedingungen für einen Wiedereintritt in eine von Bundeskanzlerin Angela Merkel geführte Bundesregierung haben führende Sozialdemokraten bereits gestellt. Im Mittelpunkt steht dabei die Einführung einer Bürgerversicherung. Die Union lehnt bislang einen Systemwechsel ab. Man wolle „keine sozialistische Einheitsversicherung“, sagte der für die Gesundheitspolitik zuständige Unions-Fraktionsvize Georg Nüßlein unserer Zeitung.

  1. .Wie ist die gegenwärtige Situation? In Deutschland gibt es ein Nebeneinander von gesetzlicher Kranken- und Pflegeversicherung (GKV) für alle Arbeiter, Angestellte und Rentner sowie privater Krankenversicherung (PKV) für Beamte, Richter, Freiberufler, Selbstständige und Angestellte, die mehr als 59 400 Euro brutto im Jahr verdienen. Derzeit sind rund 8,83 Millionen Bundesbürger privat versichert, das sind etwa elf Prozent der Bevölkerung. Der gesetzlichen Krankenversicherung gehören rund 32,6 Millionen Arbeitnehmer, 16,8 Millionen Rentner, 16,2 Millionen kostenfrei mitversicherte Familienangehörige sowie 5,8 Millionen freiwillig Versicherte an.
  2. .Was unterscheidet die beiden Versicherungen? Während in der GKV ein einheitlicher Beitragssatz von derzeit 14,6 Prozent des Einkommens (inklusive des durchschnittlichen Zusatzbeitrags von 1,0 Prozent) für alle Versicherten gilt, unabhängig von ihrem Alter oder ihrer Krankengeschichte, errechnen sich die Beiträge der
    PKV nach Alter, Gesundheitszustand und gewünschten Versicherungsleistungen. Junge zahlen weniger als Alte, Gesunde weniger als Kranke. Bei den gesetzlich Versicherten rechnen Ärzte und Krankenhäuser direkt mit der Krankenkasse ab, bei privat Versicherten dagegen mit dem Patienten, der seinerseits von seiner Kasse die Kosten erstattet bekommt. Bei Privatversicherten können Ärzte und Kliniken zum Teil einen höheren Multiplikator anwenden und somit höhere Einnahmen erzielen.
  3. .Was ist mit Bürgerversicherung gemeint? Nach dem Modell der SPD, das die frühere Arbeits- und Sozialministerin und jetzige Fraktionschefin Andrea Nahles maßgeblich entwickelt hat, gäbe es künftig nur noch ein solidarisches System, in dem ohne Ausnahme alle Bürger unter Einbeziehung aller Einkunftsarten versichert sind und im Versicherungsfall die gleiche Leistung erhalten.
  4. .Würde dies das Aus der privaten Krankenkassen bedeuten? Nein, am Nebeneinander von gesetzlichen und privaten Kassen würde sich auf Dauer nichts ändern. Wie schon bisher können die Versicherten private Zusatzversicherungen abschließen, um medizinische Sonderleistungen zu erhalten, die über die medizinische Grundversorgung hinausgehen. Derzeit haben fast 24 Millionen Bürger derartige Zusatzversicherungen abgeschlossen, 2002 waren es erst 14,2 Millionen. Allein 13,6 Millionen Verträge beziehen sich auf verbesserte Leistungen beim Zahnarzt.
    Ein starkes Wachstum gibt es auch bei den Pflege-Zusatzversicherungen, zumal es dafür auch eine staatliche Förderung gibt, den sogenannten „Pflege-Bahr“, benannt nach dem früheren FDP-Gesundheitsminister Daniel Bahr.
  5. .Was wäre der Vorteil der Bürgerversicherung? Die SPD argumentiert, dass dies ein Ende der Zwei-Klassen-Medizin bedeuten würde, da bislang Privatversicherte eine gewisse Vorzugsbehandlung genossen, schneller einen Termin erhielten oder Zusatzleistungen in Anspruch nehmen konnten. In Zukunft wäre die Grundversorgung für alle gleich. Zudem würde mit einem Schlag sehr viel mehr Geld ins System fließen, womit man weitere Leistungskürzungen verhindern könnte.
  6. .Was wären die Nachteile? Kritiker der Bürgerversicherung verweisen auf Erfahrungen in Ländern wie den Niederlanden oder Großbritannien. Dort führte die Einführung eines Einheitssystems zu einer deutlichen Absenkung des Versorgungsniveaus für alle Versicherten, zu längeren Wartezeiten und zu einer strikteren Budgetierung. Gleichzeitig nahm die Spreizung zu, da sich nur noch Gutverdiener den Zugang zu einer „Spitzenmedizin“ leisten können. Die Ärzte befürchten Umsatzeinbußen, die privaten Krankenversicherungen sehen Arbeitsplätze in ihrer Branche in Gefahr.

.Weitere Schnittmengen und Differenzen von Union und SPD: www.sk.de/exklusiv