Liebe Frau Merkel,

vor knapp zwei Wochen habe ich mit Ihnen mitgelitten. Wie Sie neben dem ukrainischen Präsidenten standen und Ihr gesamter Körper erzitterte. Man konnte Ihnen ansehen, wie sehr Sie dieser Moment überfiel. Ihre Arme verkrampften, die Lippen pressten aufeinander und Sie rangen darum, wieder Ihre bekannte gelassene Haltung zu finden.

Ich habe mich gefragt, was Ihnen in diesem Moment wohl durch den Kopf gegangen sein muss, im Wissen, dass die Weltöffentlichkeit Sie in diesen schwachen Sekunden beobachtete. Die Erklärung, Sie hätten in der Hitze zu wenig Wasser getrunken, leuchtete mir ein. Doch jetzt überkam Sie wieder so ein Anfall, in einem klimatisierten Raum neben dem Bundespräsidenten im Schloss Bellevue. Ich weiß nicht, was Sie haben, aber es treibt mich um.

Wann schlafen Sie eigentlich mal aus?

Ich glaube, dass für das Amt einer Kanzlerin übermenschliche Kräfte nötig sind. Als Journalist verfolge ich jeden Tag Ihr Pensum und ich frage mich ernsthaft, wann Sie eigentlich mal ausschlafen. Und ich frage mich, wie man es aushält, jedes Wort und jede Bewegung von Menschen bewertet zu wissen, die häufig keine Ahnung haben. Sie haben selber einmal von kamelhaften Fähigkeiten gesprochen, die Sie besitzen, um das Programm und die Last des Amtes zu bewältigen. Sie sind hart zu sich selbst und gestehen sich keine Schwäche zu – ich anerkenne das, manchmal bewundere ich es sogar. Aber ich finde es falsch.

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Es ist die alte Schule, dass Menschen in Führungspositionen nicht wanken dürfen. Dass Sie nicht sagen sollen, wenn es zu viel wird. Wer es schafft, seine Krankheiten gut zu verbergen, gilt als unersetzlich und überirdisch. Die Gefolgschaft will einen starken Führer, an dem sie sich ausrichten kann. Das war in der Antike schon so und das gilt für eine deutsche Kanzlerin wohl immer noch, das verstehe ich. Denn wenn es der Regierungschefin nicht gut geht, reagieren Börsen und verändern sich Aktienkurse. Wenn es ihr nicht gut geht, wird dem ganzen Land Schwachheit zugeschrieben.

Dieser Mechanismus wirkt unverändert und er ist die Antwort auf die Frage, ob die Gesundheit der Kanzlerin Privatsache ist. Nein, das ist sie nicht. Die Kanzlerin trägt die Verantwortung für ein ganzes Land und alle Bürger haben Anspruch auf die Auskunft, ob sie fit genug für ihr Amt ist. Ich glaube dem Regierungssprecher nicht mehr, dass seiner Chefin bloß zwei, drei Gläser Wasser am Tag fehlen.

Auch Sie dürfen schwache Momente haben

Ich wünsche mir aber auch deshalb eine Auskunft darüber, was Ihnen fehlt, weil ich finde, dass auch Sie schwache Momente haben dürfen. Angesichts Ihres bewältigenden Pensums, der irren Weltlage und der merkwürdigen Verfasstheit der Regierungskoalition hätten viele Menschen Verständnis, auch ich. Vor allem aber wünsche ich mir diese Offenheit, damit die widerlichen Spekulationen und Wortspiele im Netz enden und die Wahrheit über Ihren Gesundheitszustand denjenigen Leuten das Maul stopft, die zum „Mitzittern mit Frau Merkel“ aufrufen.

Ich empfinde tiefe Abscheu für Menschen, die sich über die Schwäche Anderer lustig machen und sie verunglimpfen. Liebe Frau Merkel, Sie stecken in einer echten Zwickmühle. Bleiben Sie gesund, Ihr

Stefan Lutz