Simon Kaminski

Inmitten des Chaos, das am 21. August vor 50 Jahren losbrach, versuchte Familie Ströbinger sich über Wasser zu halten. Die Erinnerung an diese Tage, an die aufgeheizte Atmosphäre und an die Angst ist bei Vera Ströbinger und Vera Novelli bis heute lebendig. Denn ohne Zweifel war der Ehemann und Vater in großer Gefahr: Rudolf Ströbinger hatte sich als stellvertretender Chefredakteur der Prager Tageszeitung Lidová Demokratcie früh für weitreichende Reformen eingesetzt.

Der damalige Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC), Alexander Dubcek, während einer ...
Der damalige Erste Sekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPC), Alexander Dubcek, während einer Fernsehansprache. | Bild: dpa

Nachdem Sowjet-Panzer gegen den erbitterten, aber meist friedlichen Widerstand der Bevölkerung die Lage unter Kontrolle zu bringen versuchten, war der Journalist untergetaucht. Er wollte einer Verhaftung entgehen, um weiter publizistisch gegen die Besatzer ankämpfen zu können. „Wir hofften auf ein Lebenszeichen des Vaters“, erinnert sich die Tochter Vera Novelli, die heute mit ihrer Mutter in Bobingen bei Augsburg lebt.

Die Familie Ströbinger: Vater Rudolf, Mutter Vera und ihre gleichnamige Tochter Mitte der 60er-Jahre.
Die Familie Ströbinger: Vater Rudolf, Mutter Vera und ihre gleichnamige Tochter Mitte der 60er-Jahre. | Bild: privat

Ein Brief an die damals 34-jährige Frau und die achtjährige Tochter, die am Tag des Einmarsches bei Verwandten in Südmähren waren, ist erhalten: „Ich denke ganz viel an Euch“, beginnt die Nachricht. Und: „… die Rude pravo (kommunistische Prager Tagezeitung) ist schon besetzt, wir haben auch die letzte Sonderausgabe (der Lidová Demokratcie) fertiggestellt. Weiß nicht, wie die Jungs das verteilen. Auf dem Wenzelsplatz, wo gerade die Rotationsdruckmaschine läuft, wird aus Kanonen geschossen.“

Truppen der Sowjetunion und des Warschauer Pakts fallen am 21. August in die Tschechoslowakei ein, um den Prager Frühling aufzuhalten.
Truppen der Sowjetunion und des Warschauer Pakts fallen am 21. August in die Tschechoslowakei ein, um den Prager Frühling aufzuhalten. | Bild: dpa

Die Welt fühlte mit den tapferen Tschechen und Slowaken. Doch die brachiale Macht der Militärs des russischen „Brudervolkes“ erstickte, was in den Monaten zuvor geschaffen wurde. Und das war viel mehr, als viele in der Tschechoslowakei für möglich gehalten hatten – mehr, als der russische Präsident Leonid Breschnew und die Hardliner in Polen, Warschau, Sofia und vor allem in Ostberlin zu tolerieren bereit waren.

Anders als bei den Volksaufständen in der DDR 1953 und drei Jahre später in Ungarn 1956 war es in der CSSR die Kommunistische Partei, die den Umbruch anstieß. Im April beschloss die KP unter Führung von Alexander Dubcek ein Aktionsprogramm, in dem weitreichende Reformen in Aussicht gestellt wurden. Wenig später hob er offiziell die staatliche Pressezensur auf. Schon zuvor hatten mutige Journalisten wie Rudolf Ströbinger unter Missachtung einschlägiger Bestimmungen offen berichtet.

Schnell entwickelte sich eine Eigendynamik: Das Land hatte zwischen den Weltkriegen eine reiche demokratische Tradition entwickelt. Die Opfer des Kommunismus und der Stalinisierung ergriffen die Gelegenheit und meldeten sich mit noch weitergehenden Reformwünschen zu Wort. Später wurde aus bürgerlichen Kreisen auch die führende Rolle der KP infrage gestellt. Doch dazu, dies belegen die Quellen aus dieser Zeit, waren die kommunistische Partei und Dubcek damals nicht bereit. Die Rede war von einem „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Doch wie dieser Sozialismus in der Praxis aussehen sollte, darüber gingen die Meinungen weit auseinander.

„Wir waren so überrascht, so voller Hoffnung“, erinnert sich die heute 84-jährige Vera Ströbinger. Umso bitterer das abrupte Ende des politischen Frühlings. Die Erniedrigung, die ohnmächtige Wut. „Das bleibt im Kopf, das bleibt in der Seele“, sagt sie.

Rudolf Ströbinger, der noch auf einer Postkarte geschrieben hatte „Alles wird gut, wir sind im Recht“, war sich der Gefahr bewusst, durch die neuen Machthaber festgesetzt zu werden. Er flüchtete zu Fuß über die Grenze nach Deutschland. Frau und Kind sollten folgen. Mutter und Tochter reisten am 5. November mit dem Zug aus: „Wir haben das Chaos im Land ausgenutzt. Zudem gab es unter der Hand eine große Solidarität gegen die Besatzer.“ Die Familie war vereint.

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Der Neuanfang in der Bundesrepublik war alles andere als einfach. Zumal der Geheimdienst der CSSR die Familie bespitzelte. Rudolf Ströbinger, der in Abwesenheit zu zwölf Jahren Arbeitslager verurteilt wurde, setzte seine Wut über die Niederschlagung des Prager Frühlings in Energie um. Er arbeitete – zunächst in Köln – als Journalist, Historiker und Autor. Rudolf Ströbinger, der 2002 für seine Verdienste das Bundesverdienstkreuz erhielt, starb 2005 im ostfriesischen Hage. Tochter Vera wurde Journalistin, wie der Vater.

Was vor 50 Jahren geschah

  • 31. Oktober 1967: Studentenproteste in Prag werden von prügelnden Polizisten aufgelöst. Die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei (KPC) gibt den Studenten allein die Schuld an der Eskalation. Im Zentralkomitee (ZK) brechen offen Meinungsverschiedenheiten um Reformen und um die Slowakeipolitik aus.
  • 5. Januar 1968: Das ZK wählt den Reformer Alexander Dubcek zum Ersten Sekretär.
  • 4. März 1968: Die Abschaffung der Zensur führt zu einer explosionsartigen Ausweitung der kritischen Öffentlichkeit. Rundfunk und Zeitungen berichten über das Justizunrecht der 1950er-Jahre und über Vetternwirtschaft in der KPC. Das ZK der KPC beschließt ein „Aktionsprogramm“, das Rechte wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit garantiert.
  • 27. Juni 1968: Der Schriftsteller Ludvik Vaculik veröffentlicht sein „Manifest der 2000 Worte“, das Dutzende Intellektuelle unterschreiben. Darin heißt es, eine weitere Demokratisierung sei nur außerhalb der KPC möglich. Der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew spricht nun von „Konterrevolution“ – ein Wort, das er bis dahin stets vermieden hatte.
  • 20. August 1968: Um 21 Uhr marschieren sowjetische, polnische, ungarische und bulgarische Truppen in die CSSR ein. Dubcek muss im April 1969 als KPC-Chef zurücktreten, nachdem es antisowjetische Ausschreitungen in der CSSR gegeben hatte.
  • 12. November 1968: Breschnew verkündet auf dem Parteitag der polnischen Kommunisten seine „Breschnew-Doktrin“: Die UdSSR werde auch künftig notfalls militärisch eingreifen, wenn sie die Interessen des sozialistischen Lagers bedroht sehe. Die Warschauer-Pakt-Staaten hätten nur eine begrenzte Souveränität.

Was war der Prager Frühling?

Ein junger Prager Bürger springt aus Protest auf einen Panzer der Sowjetarmee vor dem Rundfunkgebäude.
Ein junger Prager Bürger springt aus Protest auf einen Panzer der Sowjetarmee vor dem Rundfunkgebäude. | Bild: dpa
  • Der Prager Frühling: In der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei ein. Der Einfall der Militärs traf die Regierung unvorbereitet. Zwar hatten die Sowjetunion, die DDR, Polen, Ungarn und Bulgarien zum Kurswechsel aufgefordert. Doch Reformer Alexander Dubcek hatte die Reaktion der sozialistischen Nachbarländer unterschätzt. Zwar verurteilte er den Einmarsch, verbot jedoch den eigenen Truppen, Widerstand zu leisten. Besonders junge Bürger protestierten gegen die Besetzung. Fast 100 Menschen wurden erschossen.
  • Die Samtene Revolution: Nach der gewaltsamen Niedeschlagung einer Studentendemonstration kam es im Herbst 1989 zu Massendemonstrationen in Prag. Sie forderten den Rücktritt der Regierung, darunter Oppositionsführer Václav Havel und der frühere Erste Sekretär Dubcek. Generalsekretär Milos Jakes kündigte den Rücktritt des gesamten Politbüros an. 1990 fanden freie Wahlen statt.
  • Die Trennung der Tschechoslowakei: Das Land war erst 1918 nach dem Zerfall von Österreich-Ungarn entstanden. Im Zuge des Umbruchs von 1989 gerieten Grundfragen wie das Verhältnis zwischen Slowaken und Tschechen erneut an die Oberfläche, die immer wieder zu Konflikten geführt hatten. Beide Seiten einigten sich auf eine Trennung, die zu Neujahr 1993 in Kraft trat – vor 25 Jahren.