Claudia Wagner, dpa und AFP

Der Triumph ist ein doppelter: Die ukrainische Sängerin Jamala hat sich nicht nur im Vorfeld mit ihrem Lied "1944" durchgesetzt, das sie schließlich am Samstag im ESC-Finale singt, sie überzeugt auch Juroren und große Teile des Publikums mit dem Klagelied, das die Deportation der Krimtataren durch Stalin thematisiert. Mit ihrem emotionalen Auftritt berührt sie die Menschen und verweist – Ironie dieses Abends – in der Wertung den favorisisierten Sergej Lasarew aus Russland auf Platz drei. Die giftigen Reaktionen aus Russland bleiben nicht aus: Russische Politiker werten das Lied "1944" als politischen Song und monieren einen Verstoß gegen die ESC-Regeln.

Politiker aus Russland halten mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg: Franz Klinzewitsch, Duma-Abgeordneter und Verteidigungspolitiker, kritisiert den ESC-Sieg als eine politische Entscheidung, die die Kunst untergrabe. Er stellt eine Teilnahme Russlands beim ESC im Jahr 2017 in Frage – wenn sich in der Ukraine nichts ändere, sei eine Teilnahme "nicht nötig". Der Außenpolitiker Konstantin Kotschatschew spricht von einem "Sieg der Geopolitik" und warnt, der Friedensprozess in der Ostukraine sei in Gefahr.

In der Ukraine herrscht unterdessen Jubel über Jamalas Sieg. Bei ihrer Rückkehr nach Kiew wird sie von Hunderten von Menschen mit Sprechchören empfangen, Präsident Petro Poroschenko gratuliert. Während in der ESC-Nacht die Abstimmung läuft, sagt Jamala auf die Frage eines schwedischen Moderators, wie sie sich fühle, sie sei sicher, "dass Europa mich gut verstanden hat".

Im Vorfeld hatte die 32-jährige Sängerin auf Anfrage des SÜDKURIER bereits die Wirkung ihres Songs umschrieben. Komposition und Melodie und die gedankliche Tiefe des Lieds passten perfekt zusammen. "Das Lied erzählt über ein Einzelschicksal die Geschichte von Tausenden." Das Lied nimmt Bezug auf die Geschichte von Jamalas Urgroßmutter Nasylchan während der Deportationen im Jahr 1944. Die Familie wurde nach Zentralasien zwangsumgesiedelt, die Tochter Nasylchans, eines von fünf Kindern, überlebte die Deportation nicht.

Jamala, bürgerlich Susana Jamaladinowa, hat als Krimtatarin eigene Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht. Geboren wurde sie in Kirgisien. Als sie neun Monate alt ist, ziehen ihre Eltern mit ihr in die Ukraine. Später, als Jamala neun Jahre alt ist, finden sie und ihre Familie eine neue Heimat auf der Krim, in dem Dorf, aus dem ihre Vorfahren deportiert wurden, wie ihr Pressesprecher schreibt. Diskriminierung habe es wiederholt gegeben. So hätten sich ihre Eltern formal scheiden lassen müssen, da Krimtataren kein Grundeigentum auf der Krim erwerben durften. Jamalas Mutter, eine Armenierin, kaufte deshalb ein Haus unter ihrem Mädchennamen und lebte dort eine Weile allein. Bei einem Gesangswettbewerb in Moskau, an dem Jamala als Mädchen teilnahm, wurde sie wegen ihres krimtatarischen Nachnamens weggeschickt.

Das ist der Text des ESC-Siegertitels "1944"

Im ESC-Song "1944" der ukrainischen Sängerin Jamala (32) geht es um die Vertreibung der Krimtataren in der Stalin-Zeit. Das ist der Text in einer Übersetzung aus dem Englischen bzw. Krimtatarischen:

Wenn Fremde kommen

zu deinem Haus kommen

Sie töten euch alle

und sagen

Wir sind nicht schuldig

nicht schuldig

Wo sind deine Gedanken

Die Menschheit weint

Ihr denkt, ihr seid Götter

Doch alle sterben

Verschlingt meine Seele nicht

Unsere Seelen

Ich konnte meine Jugend dort nicht verbringen,

weil ihr meinen Frieden geraubt habt

Wir könnten eine Zukunft errichten

in der die Menschen frei sind

zu leben und zu lieben

Die glücklichste Zeit

Wo ist Dein Herz?

Menschlichkeit, wachse

Ihr denkt, ihr seid Götter

Doch alle sterben

Verschlingt meine Seele nicht

Unsere Seelen

Ich konnte meine Jugend dort nicht verbringen,

weil ihr meinen Frieden geraubt habt