Identität war im nun zu Ende gehenden Jahr das Thema der Stunde, an Merkmalen wie Hautfarbe, Geschlecht und sexueller Orientierung entzündeten sich hitzige Debatten. Grund genug, einmal die Identität der Heiligen Familie genauer unter die Lupe zu nehmen. Unser seit Jahrhunderten überliefertes Bild von der Jungfrau Maria und ihrem Sohn geht ja weniger auf die Heilige Schrift zurück als auf ein künstlerisches Erbe, das in der Renaissance entstanden ist. Doch wie glaubhaft sind diese Darstellungen überhaupt?
Die Haut
So hell, so weiß! Leider dürfte Matthias Grünewalds Darstellung von Mutter und Kind kaum der Realität entsprechen. 2015 rekonstruierten Forscher der Universität Manchester mit forensischen Methoden ein Profil, das dem tatsächlichen Heiland besonders nah kommen soll. Es zeigte einen Mann, dem die meisten heute wohl eine schwarze Identität zuschreiben würden.
Dass europäische Maler seit dem 14. Jahrhundert immer hellere Hautfarben wählten, hatte manche pragmatischen Gründe (etwa Identifikationsstiftung), aber auch ideologische: Der Irrglaube, helle Haut zeuge von hoher Herkunft, reicht weit zurück bis ins alte Ägypten. In der Renaissance entstand ein wahrer Wettbewerb um die gelungenste Darstellung heller Haut auf Leinwand. Ein aus heutiger Sicht fragwürdiger Erfolg gelang dabei dem venezianischen Maler Tizian (1490-1576): Mit neuer Maltechnik erschuf er ein Ideal von heller Haut, dem fortan viele nacheifern sollten.
Das Haar
Zur hellen Haut gehört in der Kunstgeschichte nicht selten das blonde Haar. Umso erstaunlicher mutet eine rothaarige Jungfrau Maria an, wie sie etwa der flämische Meister Jan Provost (1465-1529) zeigt. Haben doch vermeintliche Volksweisheiten wie „Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Artgenossen“ schon so manches Unheil angerichtet: Rothaarige Frauen mussten im Mittelalter fürchten, als Hexen verfolgt zu werden.
Grund war eine Fehlleistung von Papst Gregor I., der die angeblich rothaarige Maria Magdalena mit jener anonymen Sünderin gleichsetzte, die Jesus die Füße wusch. Aus der Sünderin wurde später eine Prostituierte und im Umkehrschluss jede Rothaarige zu einer Person von zweifelhaftem Ruf. Doch sollte sich in der Renaissance bald auch gegenläufige Entwicklung einstellen: Vielen Künstlern galt rotes Haar wegen seiner Seltenheit als Indiz dafür, dass man es mit einer von höheren Kräften auserwählten Person zu tun hat.
Das Kleid
Ob in Marias Kleiderschrank wohl auch gelbe oder grüne Kleidungsstücke zu finden waren? Wenn ja, dann müssen sie weit unten gelegen haben. Darin sind sich die meisten Künstler einig: Die Muttergottes hat am liebsten Blau getragen, so auch die „Madonna im Rosenhag“ des aus Meersburg stammenden Meisters Stefan Lochner (ca. 1400-1451). Dabei handelt es sich ausgerechnet um die mit Abstand am schwierigsten erhältliche Farbvariante „Ultramarin“, gewonnen aus dem Mineral Lapislazuli.
Womit schon der Hauptgrund dieser merkwürdigen Vorliebe benannt ist: Gerade wegen ihrer Knappheit kennzeichnet die Farbe Blau den hohen Rang einer porträtierten Person – nicht umsonst haben sich eitle Herrscher wie Frankreichs Sonnenkönig Ludwig XIV. besonders gerne in Blau malen lassen. Dass die Farbe auch an himmlische Dimensionen denken lässt, war ein angenehmer Nebeneffekt. Purpurrot steht übrigens auch hoch im Kurs.
Das Strahlen
So ein gewöhnlicher Heiligenschein ist vielen Künstlern der Renaissance nicht mehr genug, rund ums Haupt des Jesuskinds muss gleich ein ganzer Strahlenkranz blinken. Und als wäre die Krippe für ein Neugeborenes noch zu komfortabel, finden wir Jesus auffallend oft nackt auf dem kalten Boden vor. Zu verdanken haben wir das der Heiligen Birgitta von Schweden.
Der im 14. Jahrhundert lebenden Mystikerin wurden mehrfach Visionen zuteil. Eine davon geschah während einer Pilgerreise ins Heilige Land: „Nackt und klar“ sowie von einem „unsäglichen Strahlenkranz“ umgeben habe sie das Kind „auf dem Boden liegen“ gesehen, berichtete sie. Zudem habe Maria ihr „goldglänzendes Haar“ offen getragen. Künstler wie Rogier van der Weyden (ca. 1399-1464) nahmen diese bildstarke Vorlage nur allzu gerne auf. Der Engelschor, Marias knieende Haltung, das abgelegte Überkleid: All diese Details gehen auf Birgittas Bericht zurück.