Siegbert Kopp

Es ist zum Verzweifeln: Die Produktivität des Wirtschaftssystems ist eng verschwistert mit Umweltzerstörung und ungleicher Vermögensverteilung. Der Einzelne will etwas ändern, fühlt sich aber machtlos. Die Volksparteien zerfallen.

Nach dem Ende der Sowjetunion und 30 Jahre nach dem Mauerfall ist Kommunismus keine Alternative mehr. Systemkritik führt nicht zu neuen linken politischen Bewegungen. Wutbürger, Pegida, AfD, diffus wie das System. Das System, was eigentlich ist das?

Das System erdrückt die Menschen

Das System ist nicht greifbar. Das System ist abstrakt. Das System ist wie eine schwere Betondecke. Sie unterdrückt die Menschen, sie erstickt organisierten Widerstand. Das Theater Basel spielt Luigi Nonos szenische Aktion „Al Gran Sole Carico D‘Amore“.

Rund 100 Jahre Revolutionsgeschichte. Die Pariser Kommune 1871, Geburtsstunde des Kommunismus, der St. Petersburger Aufstand 1905 mit Folgerevolutionen, Che Guevara, Arbeiterunruhen in Turin – letztlich sind sie alle gescheitert.

Die Stunde des Chors: Revolution auf der Bühne.
Die Stunde des Chors: Revolution auf der Bühne. | Bild: Birgit Hupfeld / Theater Basel

Wie sich die bühnenbreite nachtschwarze Decke immer wieder auf die Menschenmassen senkt, wie sie sich dagegen stemmen, wie oben neongrell das Hoffnungswort „Sieg“ erscheint und erlischt: Das ist nur eines von vielen Bildern, die Sebastian Baumgarten (Regie) und Janina Audick (Bühne) erfunden haben. Denn es passt zum Libretto.

Dieses funktioniert selber wie eine Fläche von Texten, schwer zu durchdringen. Es gibt keine festen Rollen, keinen linearen Handlungsablauf. Nono montiert Texte von Bertolt Brecht, Cesare Pavese, Karl Marx, Lenin, Gorki, Gramsci und hierzulande unbekannten Revolutionärinnen zu einer dichten Collage – quasi zu einem starken Gegensystem des Widerstands.

Das Orchester übernimmt die Macht

Das Orchester funktioniert wie eine gewalttätige Unterdrückungsmaschinerie. Die Musik ist alles. Unter der Leitung von Jonathan Stockhammer findet das Sinfonieorchester Basel zu einer geballten Wucht – „macchina repressiva“ nannte es Nono. Es bricht rabiat in lyrische Stellen ein, spielt an Fabrikgeräusche erinnernde Klang-Cluster. Der Apparat übernimmt die Macht.

Allerdings: Wenn wie hier die revolutionären Massen das Singen und Sagen haben, schlägt die Stunde des Chors (Leitung: Michael Clark). Kammerchor und Chor des Theaters sind oft auf der Bühne, simultan als Guerilleros, Kommunarden, Fabrikarbeiter – ineinander verschränkt wie Texte und Musik.

Die Frauen sind für die Liebe zuständig

Der Zweiakter „Al Gran Sole Carico D‘Amore“ heißt übersetzt „Unter der großen Sonne von Liebe beladen“. Für die Liebe sind bei Nono die Frauen zuständig. Allerdings geht es nicht um die traditionelle Frauenrolle, Kinder, Küche, Seelentrösterin, sondern um Revolutionärinnen. Zur Zeit der Uraufführung 1975 war die neue Frauenbewegung im Kommen.

Nono greift aus den vergangenen Revolutionen starke Frauenfiguren heraus: Louise Michel für die Pariser Kommune, Tamara Bunke für den bolivianischen Befreiungskampf, Haydée Santamaria für Kuba, die kämpferische Mutter aus Gorkis gleichnamigem Roman, die Prostituierte Deola von Cesare Pavese – starke Frauen, die sich im Gesang finden.

Keine Frage: Das Bühnenbild ist beeindruckend.
Keine Frage: Das Bühnenbild ist beeindruckend. | Bild: Birgit Hupfeld / Theater Basel

Es singen die Sopranistinnen Sara Hershkowitz, Cathrin Lange, Sarah Brady, Kristina Stanek, Rainelle Krause sowie die Altistin Noa Frenkel. Die Solo-Soprane übernehmen keine Rollen, Frauenfiguren und Stimmen gehen ineinander über wie die Epochen. Die Sopranistinnen mit ihrem Avantgarde-Belcanto meistern auch musikalisch die von Nono angepeilten Extrem-Höhen.

Die Collage sich überlappender Figuren, Texte und musikalischer Anteile funktioniert wie ein virtuoses Gesamtsystem. Doch leider, das System schlägt zurück. Hermetisch wie alle Systeme, macht es Nonos „szenische Aktion“ dem Zuschauer schwer, sich hineinzufinden, sich zurechtzufinden. Wer ist wer? Was ist was?

Die eigene Haltung fehlt

Regisseur Baumgarten hat das geahnt. Er illustriert das Bühnengeschehen mit Video-Projektionen: historische Fotos von erschossenen Kommunarden, biografische Angaben zu den Personen, Nixons Vietnamrede, der aufgebahrte Che Guevara, Polizeiaktionen gegen den Pariser Mai 1968 … Permanente Begleitveranstaltungen führen das Publikum in Nonos schwieriges Werk ein, dem Programmheft liegt das Libretto bei.

Das Theater Basel hat alles getan, um Nono dem Publikum näherzubringen. Nur: Etwas fehlt. Das ist die eigene Haltung, ein aktueller Zugriff. Nichts von der heutigen Systemkritik, nichts von neuen Widerstandsbewegungen. Historischer Anschauungsunterricht mit den Mitteln der Neuen Musik. Die Inszenierung verharrt in der Erinnerung.

Es war einmal …

Dafür zuständig ist hier eine Erinnerungsarbeiterin: Eine Rätsel-Frau mit blutroter Perücke begleitet die Aktionen und fängt Stimmen ein, um sie auf Tonband aufzuzeichnen. Tenor: Das war einmal. Alles vorbei. Ein Stadttheaterbegräbnis für Revolutionäre? Hier schon. Kräftiger kurzer Applaus.

Die nächsten Vorstellungen von „Al Gran Sole Carico D‘Amore“ am Theater Basel gibt es am 20., 22., 28. und 30. September 2019. Weitere Informationen finden Sie hier.