Ob Kosmetikindustrie, Weltklima oder das Tempolimit auf deutschen Autobahnen, ob es um sozialen Wohnungsbau, humanitäre Hilfe oder eine Mauer geht, die dem Schutz der eigenen Bevölkerung dienen soll: Überall auf der Welt gibt es Projekte, hinter denen ganz bestimmte Menschen mit ihren ganz indiviudellen Wahrheiten stehen. Die Frage ist, wer von diesen Wirklichkeiten profitiert, wer die Gewinner und wer die Verlierer sind.
Und während andernorts Schüler streiken aus Sorge um die Umwelt, demonstrieren in der Nähe der schadstoffreichsten Straßenkreuzung Deutschlands in Stuttgart Hunderte Menschen gegen Dieselfahrverbot und Feinstaubalarm. Jedem seine eigene Wahrheit?
Eine Lebenslüge namens Hedvig
Wie die Welt im Großen, hat Henrik Ibsen (1828-1906) den Selbstbetrug im Kleinen, nämlich in der Familie, bearbeitet. In seinem Schauspiel „Die Wildente“, 1885 im norwegischen Bergen uraufgeführt, heißt die Lebenslüge Hedvig und ist 14 Jahre alt.
Vor einem weißen Fotohintergrund, der auch als Wohnung der Familie Ekdal dient und als farbig beleuchtete Auslegeware wie eine Raum-Licht-Installation von James Turrell die Bühne von Silvio Merlo und Ulf Stengl einnimmt, inszeniert Regisseur Elmar Goerden am Schauspiel Stuttgart das Stück, das Ibsen mit autobiografischen Bezügen und psychologischem Tiefgang gespickt hat.
Jetzt könnte der zweistündige Abend ohne Pause zu einer trockenen Angelegenheit werden, in der am Ende die Entdeckung steht, dass Hedvig gar nicht Hjalmars Kind ist, sondern vom Widersacher seines Vaters gezeugt wurde. Doch Goerden lässt sich auf solch emotionale Zentnerlast nicht ein.
Es gelingt ihm, die Weitschweifigkeit des Stücks zu umgehen, indem er in zwei Stunden temporeich Schauplätze verquickt und die Darsteller in Hinrich Schmidt-Henkels Übersetzung aus dem Norwegischen mit zügigen Dialogen und Zwischentönen als echte Typen agieren lässt, die sich des Lebens freuen und sich in diesem so gemütlich eingerichtet haben, dass sie nichts so schnell aus der Ruhe bringt.
Mann, Frau, Tochter
Ganz vorne steht da Hjalmar, den Schauspieler Klaus Rodewald als trägen, mit sich selbst zufriedenen Fotografen zeichnet, der an einer fiktiven Erfindung arbeitet.
Anke Schubert ist als Gina eine liebende Ehefrau, die in ihrer Resolutheit den etwas weltfremden Ehemann gewähren lässt und die Fäden in der Hand hält. Und Töchterchen Hedvig – mit dicken Brillengläsern gegen die echte und sinnbildliche Blindheit ankämpfend – wird von Anne-Marie Lux so überzeugend gegeben, dass man der 30-Jährigen den naiv-fantasievollen, trotzig-aufmüpfigen, aber gutherzigen Teenager sofort abkauft.
Rachefeldzug gegen den Vater
Eine angeschossene Wildente, die in einem Wald auf dem Dachboden gemeinsam mit Taube und Hasen in einem Karton lebt, ist Hedvigs Ein und Alles. Das Unglück kommt in Steppjacke, Fellmütze und schwerem Gepäck (Kostüme: Lydia Kirchleitner) in Gestalt des unsensiblen Wahrheitsfanatikers Gregers (Reinhard Mahlberg), der den Rachefeldzug gegen seinen eigenen Vater, den Großhändler Werle (Edgar M. Böhlke), hinter dem Vorwand versteckt, Hjalmar die Augen zu öffnen.
Werle hatte damals Gina ein Kind gemacht, Gregers Mutter damit vielleicht in den Selbstmord getrieben und alle, die es ahnten, aus seinem Gesichtskreis verbannt: den Sohn nach Norden und den alten Ekdal (Ralf Dittrich) ins Gefängnis, wo er eine Strafe absaß, die auch Werle selbst gegolten hätte.

Mit Spielwitz, Situationskomik, Selbstironie und schwarzem Humor verhandeln die Darsteller die Vergehen in der Vergangenheit, die zu besiegelten Lebensentwürfen in der Gegenwart geführt haben. Goerden versteckt die Vorgeschichten subtil in Aussprachen und einmal in Pantomime, mit der Gregers in einer komisch-ernsten Familienaufstellung die ganze Wahrheit ans Licht bringt, die mit zahlreichen Metaphern zwischen Hell und Dunkel und immer mal wieder einem Schuss aus der Schrotflinte begleitet wird.
Dem zeitweisen Zuviel an Begleitung durch die Live-Musikerin Helena Daehler an der E-Gitarre, am Bass und der Ukulele hätte es da nicht bedurft.
Alles fällt in sich zusammen
Das ganze mühsam aufrecht erhaltene Gerüst aus privaten, geschäftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen, aus Schuld, Verdrängung, Selbstbetrug und offenen Wunden fällt in sich zusammen. Hjalmar, der plötzlich alles schon geahnt hat, tobt, die Ehe droht zu zerbrechen.
Und es stellt sich auch für das Publikum die Frage: Soll man einem Freund sagen, dass die Liebe seines Lebens nicht zu ihm passt? Oder soll man ihn ins vermeintliche Unglück rennen lassen? Wie weit geht die Moral, wie weit die Verantwortung und wo beginnt die Einmischung?
Die Figuren leiden indes nur kurz. Dann haben sie sich mit der neuen Situation abgefunden. Alles scheint ein gutes Ende zu nehmen. Einzig Hedvig zerbricht an der zeitweisen Zurückweisung des Vaters. Wie seine tote Beute trägt Gregers, der heuchlerische Aufklärer, sie am Ende über der Schulter. Ente gut, alles gut? Dieses Mal leider nicht. Das zeigt das Stuttgarter Ensemble mit aller Deutlichkeit.
Weitere Aufführungen von "Die Wildente" am Schauspiel Stuttgart gibt es am 22. Februar 2019 sowie am 3. und 29. März. Informationen finden Sie hier.