Christian Huther

Die berühmte Proportionsregel wurde von den alten Griechen erfunden, vermutlich schon vor 2500 Jahren. Aber erst um 300 vor Christus brachte Euklid sie zu Papier. Der Goldene Schnitt teilt eine Strecke in einen längeren und kürzeren Teil, etwa zwei Drittel zu einem Drittel. Das Verhältnis der beiden Teile entspricht dem Verhältnis zwischen ganzem Teil und längerem Teil. Klingt kompliziert, ist aber ganz einfach.

Die besten Beispiele finden sich in der Natur. Die Blätter der Bergulme und des Feigenbaumes etwa teilen sich im Goldenen Schnitt. Akelei oder Heckenrose haben fünf Blüten, die im Goldenen Schnitt zueinander stehen, sodass sie genug Licht erhalten. Die Ananasschale wiederum hat braune Schuppen, die spiralförmig nach links oder rechts verlaufen, in acht, 13 oder 21 Spiralen – der sogenannten Fibonacci-Reihe. Auch die Blüten von Gänseblümchen und Margeriten ergeben Fibonacci-Zahlen.

Was es mit Fibonacci auf sich hat? Leonardo Fibonacci war Kaufmann und gilt als berühmtester Mathematiker des Mittelalters. Sein „Buch des Abakus“ (1202) erklärte allerlei Zahlentheorien. So entdeckte er ein Zahlenverhältnis, das von den Griechen als geometrische Formel ausgetüftelt worden war: die Fibonacci-Folge. Sie nähert sich dem Goldenen Schnitt rechnerisch und basiert auf der Frage: Wie viele Kaninchen-Paare entstehen in einem Jahr aus einem Paar, wenn jedes Paar ab dem zweiten Monat ein weiteres Paar hervorbringt?

Die Lösung lautet: 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21 … In den ersten beiden Monaten ist das Paar allein, im dritten und vierten Monat bringt nur dieses Paar Kinder zur Welt, im fünften Monat schon beide Paare. Wer die Reihe aufmerksam liest, wird merken, dass jede Zahl genau die Summe der beiden vorhergehenden Zahlen ergibt. Das Verhältnis zweier aufeinanderfolgender Fibonacci-Zahlen ähnelt dem Verhältnis des Goldenen Schnittes. Mit diesem Thema beschäftigt man sich in diesem Jahr auch auf der Blumeninsel Mainau im Bodensee – dort wird gezeigt, wie viel Mathematik in der Welt der Pflanzen steckt.

Auch Künstler wie Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer und Michelangelo sollen sich der Formel bedient haben. Der Goldene Schnitt wurde nämlich erst in der Renaissance wiederentdeckt. Tatsächlich findet sich die Formel verblüffend oft bei berühmten Kunstwerken, bei Leonardos „Mona Lisa“ ebenso wie bei Dürers „Selbstbildnis im Pelzrock“.

Aber die mit vielen Kompositionslinien überzogenen Bilder verwirren den Betrachter. Ist die schöne Kunst nur ein schnödes Produkt der Mathematik, hängen also Ästhetik und Mathematik zusammen? Natürlich sind Farben und Formen, Perspektiven und Proportionen wichtig. Bei keinem der erwähnten Künstler findet sich ein Bekenntnis zum Goldenen Schnitt. Vermutlich wurde die Formel intuitiv benutzt.

Schon 1854 hatte der Gelehrte Adolf Zeising antike Bauten, Renaissance-Bilder, Himmelskonstellationen und den Menschen vermessen. Da er den Punkt für seinen Zirkel oft beliebig ansetzte, kam er zum gewünschten Ergebnis, dass der Goldene Schnitt überall waltet. Auch dem Psychologen Gustav Theodor Fechner ist es zu verdanken, dass die Formel im Europa des 19. Jahrhunderts populär wurde. Er fragte nach einem als harmonisch empfundenen Rechteck – es siegte die goldene Variante.

Kurzum: Wenn wir etwas als schön empfinden, findet sich darin oft der Goldene Schnitt. Die Formel garantiert eine gute Proportion und hat sich zum Mythos gemausert, trotz eher wackliger Beweise. Auch das Internet wimmelt von kuriosen Beispielen, vom Schönheitsraster im Gesicht von Marilyn Monroe bis zu dynamisch verdrehten Katzen. So ist die Bedeutung der Formel mehr denn je umstritten. Nicht zu unterschätzen ist auch der Einfluss von genormten Dingen auf unsere Wahrnehmung, von der Scheckkarte über das DIN-A4-Format bis zum Fernseher. In anderen Kulturen sieht man mit anderen Augen – unser Schönheitsideal des Goldenen Schnittes ist also antrainiert.

Erstaunlich flexibel wird die Formel von renommierten Gestaltern wie Erik Spiekermann genutzt: „Diese und andere Zahlenkabbalistik machen mir Spaß, helfen bei der Arbeit und überzeugen meist die Auftraggeber, weil gegen Goldene Regeln niemand etwas einwenden mag … Damit diese Kabbalistik auch praktisch ist und in vorgegebene Formate passt, kann man ein wenig runden und von der reinen Lehre abweichen. Ein guter Ausgangspunkt ist der Goldene Schnitt allemal.“

Folglich ist er nicht das Maß aller Dinge und dient selbst in der Architektur nur als Orientierung. In der Natur kommt die Proportion oft vor, aber es überwiegt die Symmetrie, das Gleichmaß von zwei Hälften. So verrät die Popularität des Goldenen Schnittes viel über den Menschen und seine Sehnsucht nach einer harmonischen Regel.

Und wer sich nicht in der Natur umtun will, der kann auch nach Frankfurt ins Museum für Kommunikation fahren. Dort wird die Formel in einer Zeitreise anschaulich erklärt. „Göttlich. Golden. Genial“, so der Titel der Schau, umfasst 250 Objekte aus Natur, Architektur, Kunst, Design und Musik.

 

„Göttlich. Golden. Genial. Weltformel Goldener Schnitt?“: zu sehen bis 23. Juli 2017 im Museum für Kommunikation in Frankfurt am Main. Geöffnet von Dienstag bis Freitag 9 bis 18 Uhr sowie Samstag und Sonntag 11 bis 19 Uhr. Weitere Informationen auf www.mfk-frankfurt.de

Der Trailer zur Ausstellung: