So sieht also ein preisgekrönter Musiker aus. 1,68 Meter groß mit Brille. Bekleidet mit Kappe, schwarzer unförmiger Jacke, einer pinken, weit ausgestellten und auf Wadenhöhe endenden Hose und weißen Turnschuhen. Andere würden damit zum Einkaufen gehen. Kendrick Lamar steht so auf einer der größten Bühnen der Welt für urbane Musik im schweizerischen Frauenfeld, keine 30 Minuten von Konstanz entfernt. Er kann sich jedes Outfit erlauben, schließlich ist er der heiß ersehnte Star des Openair Frauenfeld – und nicht nur mit allein 17 Grammys gekrönt, sondern auch mit dem Pulitzer-Preis für Musik 2018. Ja, den gibt es. Nein, den hat vor ihm noch kein populärer Musiker bekommen, sondern meistens Künstler aus dem Klassik- und höchstens mal Jazz-Bereich.
Die Klassikwelt war mindestens erstaunt, die restliche Welt begeistert. Denn Kendrick Lamar ist nicht irgendein Musiker, sondern ein schwarzer Rapper aus dem Problem-Vorort Compton bei Los Angeles. Ausgezeichnet wurde er dafür, wie authentisch und dynamisch er die Komplexität des modernen afro-amerikanischen Lebens festhält. Das zeigt auch sein Besuch in der Schweiz.
Unaufgeregt betritt Kendrick Lamar die Bühne, eine Hand in der Jackentasche, die andere am Mikrofon. Während des folgenden knapp 70-minütige Konzerts schält sich nicht nur das Bühnenbild allmählich und zeigt mit mehreren Leinwänden typische Szenen afro-amerikanischen Lebens. Auch der erlaubt immer tiefere Einblicke in sein Innenleben: Die Texte tragen seine Erfahrungen in eine begeisterte Menge, die jede Silbe aufzusaugen scheint – und erstaunlich textsicher mitspricht.
Verdammt ehrlich – und damit erfolgreich
Die bekanntesten Titel befinden sich auf seinem Album „Damn.“, das ihm den Pulitzer-Preis einbrachte. Der 36-Jährige nennt in „DNA“ 23 Dinge, die ihn ausmachen – von Krieg, Frieden, Ambitionen bis Loyalität – und damit genauso viele, wie es Chromosomen-Paare in der menschlichen DNA gibt: genial, wie nicht nur ein Youtube-Nutzer konstatiert. Und in „Humble“ ermahnt er eine „Bitch“ (oder doch sich selbst?), bescheiden und höflich zu bleiben.
Dabei verzieht er live in Frauenfeld kaum eine Miene, bewegt sich auch kaum. Er steht da und spricht in einem melodiösen Singsang. Erzählt, was er zu sagen hat. Sprechgesang in reinster Form, manchmal fast a cappella, nur untermalt von einem schneller werdenden dumpfen Beat. Viele Worte, viel Inhalt. Eine kunstvolle Gesamtkomposition, der man eher zuhört, als in einem Moshpit aufeinander zuzurennen.
Schon 2020 ersehnt, jetzt endlich da
Der wortgewaltigste Rapper der Welt, wie die „Süddeutsche Zeitung“ ihn 2018 genannt hat, sollte schon 2020 beim Openair Frauenfeld auftreten. Doch dann kam die Pandemie, und 2022 stand er nicht auf dem Programm. 2023 ist er der unbestrittene Höhepunkt.

Travis Scott war zwar Stargast des Freitagabends, aber schon das vierte Mal beim Frauenfeld – und spürbar verhalten, nachdem zehn Menschen bei einem seiner Konzerte im November 2021 in einer Panik zu Tode kamen. Und Stormzy, der am Samstag mit Wizkid zu den Headlinern zählt, taucht selten in den deutschen oder schweizerischen Charts auf, wenn er nicht gerade mit Landsmann Ed Sheeran den Hit „Own It“ präsentiert.

Dabei liefern beide, der große Brite und der kleinere Nigerianer, eine überzeugende Show. Und dass Wizkid direkt die große Bühne bekommt, ist bemerkenswert.
Diese Headliner und auch andere Künstler des Festivals fahren einiges auf, um ihre Fans zu beeindrucken: Lichteffekte, Feuerwerk und akustische Effekte wie einen Adler, der bei Travis Scott immer wieder am Rande der Songs kreischt.

Umso auffälliger, wie unaufgeregt Kendrick Lamar da auf der Bühne steht. Erst nach knapp der Hälfte des Konzerts bringt er seine Darbietung auf die nächste Stufe, wie er ins Mikrofon spricht, und betritt den Steg, der ihn noch näher zum Publikum bringt. Dort will er dann kaum wieder weg, hinterlässt am Ende auch zwei unterschriebene Setlists für die Fans.
Ein nüchterner Christ: Vom Stereotyp bleibt wenig übrig
Kendrick Lamar ist eine angenehme Abwechslung in einer Rapwelt, deren Stereotyp auf schwarzen Rappern mit dicken Klunkern beruht. Mit einem Joint in der einen und einer spärlich bekleideten Frau an der anderen Hand. Von diesem Stereotyp bleibt allgemein wenig, wenn man sich die Szene einmal genauer ansieht. Ein Anzeichen: Von rund 90 Acts waren in diesem Jahr über 20 Frauen, die mit dem Klischee spielen oder es direkt aufbrechen.

Auch der 36-jährige Rapper ist weit weg von einfachen Erklärmustern: Er trägt keinen Schmuck. Alkohol und Drogen hat er abgeschworen. Und er ist seit vielen Jahren mit seiner Highschool-Liebe zusammen. Statt heißen Chicks hat der bekennende Christ, der sich 2013 taufen ließ, eine wachsende Gruppe kleiner Männer dabei.
Zeit nehmen in immer schnelleren Zeiten
Was Lamar auch von anderen unterscheidet: Der Literat unter den Rappern nimmt sich Zeit, um seine Inhalte zu platzieren. Kein Hetzen von einem Song zum nächsten, stattdessen auch mal 30 Sekunden warten vor einer schwarzen Bühne. Ungewohnt in Zeiten, wo jeder schnell von einem Handyvideo zum nächsten wischt und die Aufmerksamkeits-Spanne immer kürzer wird.
Doch auch hier zeigt sich Kendrick Lamar selbstbewusst: Er muss sich keinen Konventionen mehr fügen, keinem Strudel aus immer mehr und immer schneller. Nicht erst seit dem Pulitzer-Preis hören die Menschen ihm zu. Und erfahren so viel über das komplexe Leben von afro-amerikanischen Menschen – nicht nur in den USA. Und vielleicht auch etwas über sich selbst.