Wirklich gut geschlafen hat Jakob Wirth in der Nacht von Freitag auf Samstag nicht. Als er morgens in seinem umgebauten Bauwagen aufwachte, blickte er zwar wie sonst auch auf eine Streuobstwiese – nur war es nicht mehr die Streuobstwiese in der Schnetzenhauser Straße, wo die Blaue Blume bislang auf dem Privatgrundstück einer Landwirtin campiert hatte. Sein Blick ging nun quer über die Windhager Straße und über den Bodensee. Wieso er an einem der schönsten Fleckchen Friedrichshafens trotzdem nicht gut schlief, ist klar: Jakob Wirth und seine Mitstreiter der Blauen Blume dürften nicht wirklich hier sein.

Zwar haben sie die Erlaubnis des Landwirts, der den Boden gepachtet hat, aber Verpächter ist die Stadt Friedrichshafen, und die hat der Blauen Blume für diese Streuobstwiese vor den Toren des Fallenbrunnen eine Absage erteilt. „Man hat uns gesagt, dass hier irgendwann gebaut werden soll und dass die Stadt hier deshalb niemanden haben will“, erläutert Jakob Wirth. „Aber unser Konzept besteht ja gerade in der Zwischennutzung. Wenn hier konkret gebaut werden soll, ziehen wir woanders hin.“
Die Blaue Blume wünscht sich einen zentraleren Platz als bisher, wo man schon gute Ortskenntnis brauchte, um sie zu finden. Die Gruppe will in die Stadt hineinwirken, will einen „Ermöglichungsraum“ schaffen, der für jeden offen steht. Wirkliche Fortschritte gab es auf diesem Weg aber nicht. Zwar hörte die Stadtverwaltung der Blauen Blume wohlwollend zu, in letzter Konsequenz wurden ihre Wünsche und Vorschläge aber abschlägig beschieden. Daher hat die Blaue Blume nun gehandelt und ist mit rund 25 Helferinnen und Helfern mit Sack und Pack, mit ihren Bauwagen und sogar alten Omnibussen am Wochenende in die Windhager Straße gezogen. „Wir wollen die Stadt nicht in Zugzwang bringen“, sagt Jakob Wirth vorsichtig; aber natürlich bewirkt die Aktion gerade das.


Die Sache ist nur die: Die Blaue Blume lebt vom Enthusiasmus ihrer Mitglieder, und der drohte nach zwei Jahren auszubluten. Wenn man sich nun am Samstag auf der Streuobstwiese umsah, ist das kaum zu glauben: überall wurde gewerkelt und geschraubt. Unter einem Dachlattengerüst entstand eine Freiluftküche, die künftig für jedermann offenstehen soll. Im „Glashaus“, das aus entsorgten Fenstern und Glastüren zusammengebaut wurde, spielte zur Eröffnung am Samstag die Luftschiffkapelle der ZU. „Klar ist das ein bisschen schnell, gleich am ersten Tag ein Konzert zu geben“, sagt Jakob Wirth. „Aber man muss ja auch gleich loslegen, um zu zeigen, was man möchte.“
Und was möchte man? Jedem das Angebot machen, ihn mitzunehmen. Das ist vielleicht ein naiver Anspruch, geäußert von jungen Leuten, die jetzt ohne fließendes Wasser und Elektrizität auf der Wiese sitzen – aber wer in der Nähe der Streuobstwiese wohnt und am Samstag den Briefkasten öffnete, fand darin eine Postkarte, auf der die Blaue Blume sich vorstellte, als „Ort des Zusammenkommens, des Austauschs und der Unterhaltung; als Eckkneipe und Theater, Kino und Konzertsaal; zum Kaffeetrinken und Diskutieren, zum Zuhören, Mitmischen, Entspannen und einfach nur vorbeikommen.“ Über 300 dieser Einladungen wurden verteilt, „und die Rückmeldungen waren bisher alle nur positiv“, sagt Jakob Wirth. Auch um gute Beziehungen zum angrenzenden Evangelischen Kindergarten bemüht man sich: „Am Mittwoch gibt es zusammen mit dem Kindergarten ein Laternenlaufen“, sagt Jakob Wirth.


Ein Ort des Zusammenkommens zu werden, fiel am bisherigen Ort auch deshalb schwerer, weil es an Platz fehlte. So konnten die beiden Omnibusse nicht aufgestellt werden, die von der Blauen Blume in viel Eigenarbeit mit Holz ausgekleidet wurden. Nun sind sie Veranstaltungsräume, in denen es schmucke Holzöfen gibt, und als Alternative eine simpel zu bedienende Standheizung.
Das Pfund, mit dem die Blaue Blume wuchern kann: Sie treibt diesen Aufwand nicht einfach für sich selbst. Es geht am neuen Standort mehr denn je um Partizipation. Wer das Grundstück betritt, stößt rundum auf die einladend öffentlichen Orte. Die Wohnfunktion ist zurückgedrängt, steht ganz bewusst in zweiter Reihe. „Sonst wäre das sozial zu sehr gekoppelt und die Leute hätten das Gefühl, sie müssten uns kennen, um hierher zu kommen. Uns ist aber wichtig, dass die Menschen kommen, egal ob sie uns kennen oder nicht. Wobei es natürlich schon schön ist, wenn man sich dann kennenlernt“, sagt Jakob Wirth.


In Friedrichshafen klingt das alles noch utopisch. Aber es gibt Städte, in denen das Konzept solcher Wagenplätze gelebt wird, wie etwa in München, Freiburg oder Tübingen. Baurechtlich befänden sich diese Projekte in der Grauzone, sagt Wirth, aber zugleich werden sie von diesen Kommunen geduldet. Künftig auch in Friedrichshafen? Kontakte der Blauen Blume zur Stadtverwaltung gibt es in dieser Hinsicht seit längerem.
Der Entwurf eines Vertrages läge der Stadtverwaltung vor, so Wirth. Er entstand, als die ZU aus der Container-Uni ausgezogen war und darüber nachgedacht wurde, den Hangar zur kulturellen Begegnungsstätte zu machen, betrieben von der Blauen Blume und studentischen Initiativen. Daraus wurde nichts – aber: „Dieser Vertragsentwurf wäre eine Grundlage, auf der man weiter verhandeln könnte“, meint Wirth. Und dann muss er weiter: Die Komposttoilette muss aufgestellt werden. Ein Traktor mit Stapelgabel hat sie schon auf die Hörner genommen.
Hinter die Obstbäume kackt bei der Blauen Blume niemand, und die „Bedürfnisse“ landen auch nicht in einer lecken Senkgrube. Sollte das Kompostklo für die Stadt ein Problem darstellen, „soll es am Klo nicht scheitern“, sagt Jakob Wirth, der auch die Strom- und Wasserfrage lösen will: Strom könnte eine Solaranlage liefern, im Notfall ein Generator. Wasser wiederum lässt sich in Tanks lagern. „Da wir kein fließendes Wasser haben, haben wir praktisch kein Abwasser. Und von der Zahnpasta bis zum Putzmittel sind alle Produkte, die wir verwenden, biologisch abbaubar.“
Eine Reaktion der Stadt auf die Siedlungsaktion der Blauen Blume steht noch aus – das zuständige Dezernat wird sich voraussichtlich heute äußern.
Die Blaue Blume schaut derweil nach vorn: Am heutigen Dienstag sind um 20 Uhr alle Interessierten zum „Offenen Plenum“ am neuen Standort (Windhager Straße 32) eingeladen – zum Zuhören und zum Mitmachen.