Die Assoziation des Ausstellungstitels mit dem gleichnamigen Chaplin-Spielfilm ist gewollt: „Moderne Zeiten“. Auch in der Kunst stehen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Zeichen auf Innovation – mit einer Vielfalt stilistischer Strömungen wie in keiner anderen Epoche. In der Kunsthalle Würth in Schwäbisch Hall hängt eine Sequenz des 1936 gedrehten Streifens deshalb einem Bild von Natalja Gontscharowa mit dem technischen Räderwerk einer Uhr gegenüber. Einer von vielen gelungenen Bezügen in der auf 2600 Quadratmeter angelegten Schau, für die rund 200 Gemälde und Skulpturen von 95 Künstlern der Klassischen Moderne, darunter selten ausgeliehene Hochkaräter, aus Berlin kommen.
Für ein Jahr hat sich die Neue Nationalgalerie der Staatlichen Museen zu Berlin, mit denen die Sammlung Würth seit 2006 eine künstlerische Zusammenarbeit verbindet, von ihren Schätzen getrennt. Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie, wo die Ausstellung 2010/2011 mit großem Erfolg lief, und Kurator Dieter Scholz, der das Konzept für Hall realisiert hat, wollen mit der Schau „einen anderen Blick auf die Moderne werfen“, die mit dem Jahr 1933 und dem Stempel „entartete Kunst“ nicht vorbei war. Darunter sind auch Werke des noch ungeteilten Deutschlands, die seit jeher zur Galerie und zur deutschen Kunst- und Zeitgeschichte zwischen 1900 und 1945 gehören.
Monumentale Großstadtszenen aus Ernst Ludwig Kirchners Berliner Zeit, mit ihren ausdrucksstarken Farben und Formen Zeugen des Expressionismus, leiten über zu weiteren Brücke-Künstlern wie Otto Müller, Max Pechstein, Emil Nolde, in deren Strand- und Südseebildern Gauguin und Matisse spürbar werden. Karl Schmidt-Rottluffs bizarres „Bildnis des Kunsthistorikers Wilhelm Niemeyer“, dessen Monokel mit dem Auge verschmilzt, steht Oskar Kokoschkas skurrilem „Mann mit Puppe“ gegenüber, in dem der Maler sich selbst und den als Ersatz für die leidenschaftlich geliebte Alma Mahler gedachten Fetisch abbildet.
Der Impressionist Lovis Corinth, der im Spätwerk expressionistisch malte, ist ebenso vertreten wie Max Beckmann mit dem Familienbild Heinrich Georges, das 1935 das Spiel mit dem Wort „Pogrom“ wagt. Zu den Hochkarätern aus Berlin zählen Max Ernsts surreale Bildwelten in Gemälde und Plastik. Auch Otto Dix‘ neusachliche, im Detail faszinierende „Skatspieler“, die trotz verkrüppelter Gliedmaßen nicht vom Kartenspiel ablassen, sowie George Grosz‘ „Stützen der Gesellschaft“ sind dabei: beides eindeutige Kommentare zur Lage in der Weimarer Republik.
Dazu passen Wilhelm Lehmbrucks „Gestürzter“, der 1915 als „zu wenig heroisch“ kritisiert wurde, und Gemälde von Curt Querner, Georg Schrimpf und der jüdischen Künstlerin Lotte Laserstein: Spielarten der Neuen Sachlichkeit von politisch über neu-romantisch bis zur Melancholie.
Wilhelm Lachnit oder der im Westen unbekannte Horst Strempel und für die 1930er-Jahre erstaunlich mythischen Werke von Ernst Wilhelm Nay, die den düsteren Arbeiten seines Lehrers Karl Hofer gegenübergestellt sind, gehören zu den Entdeckungen. Ebenso Franz Radziwills apokalyptisch-surreales Bild „Flandern“ von 1940, das der Künstler nach gemachten Kriegserfahrungen überarbeitete. Eine Porträtgalerie, Bild an Bild in Petersburger Hängung, scheint den dafür zu kleinen Raum zu sprengen: Seite an Seite begegnen sich hier Stilrichtungen und Techniken in Werken von expressiver, veristischer und kubistischer Ausprägung. Rudolf Bellings Skulpturen „Dreiklang“ und „Max Schmeling“ hinterfragen ein System, das einen heterogen arbeitenden Künstler einerseits als entartet verfemt, andererseits als „vorbildlich“ präsentiert, während Christian Schads „Sonja“ von 1928 die Zeit zwischen den Weltkriegen im unberührten Blick einfängt.
Während Abstraktion, Bauhaus, Konstruktivismus und Dada zu kurz kommen, ist die internationale Avantgarde mit Pablo Picasso, Salvador Dalí, Fernand Léger und Edvard Munchs „Lebensfries“ für das Max-Reinhardt-Theater in Berlin prominent vertreten. 3500 Quadratmeter standen der Ausstellung in Berlin zur Verfügung. Vergleichsweise dicht wirkt sie in Schwäbisch Hall. Was aber nichts daran ändert, dass die unter thematischen und stilistischen Aspekten gegliederte und in ihrer Vielfalt faszinierende Präsentation sehenswert ist: als Widerhall eines neuen Zeitalters mit extremen Ausprägungen.
Bis 1. Mai 2015. Kunsthalle Würth, Lange Straße 35, Schwäbisch Hall. Täglich 10-18 Uhr; 25./26. Dezember und 1. Januar 12 bis 17 Uhr; 24. und 31. Dezember geschlossen. Eintritt frei. Katalog: 40 Euro
www.kunst.wuerth.com