Mal ehrlich: Nach dem Ausgang einer Oberbürgermeisterwahl in Tübingen würde eigentlich über den Südwesten hinaus wohl kein Hahn krähen. Aber die Wahl am 23. Oktober in dem schwäbischen Universitätsstädtchen am Neckar, 30 Kilometer südlich von Stuttgart, 90.000 Einwohner, 69.000 Wahlberechtigte, steht im bundesweiten Scheinwerferlicht.
Denn es geht um einen, der seit Jahren polarisiert, und zwar nicht nur bei seiner Partei, den Grünen. Bist du nicht für ihn, bist du gegen ihn. Es geht um Boris Palmer.
Oberbürgermeisterwahl in Tübingen
Seit 2006 regiert der Grünen-Politiker im Tübinger Rathaus, jetzt strebt der 50-Jährige die dritte Amtszeit an. Seine kommunalpolitische Bilanz ist blendend, das bescheinigen ihm auch Gegner. Die Stadt wächst und ist schuldenfrei, hat viele saubere High-Tech-Arbeitsplätze dazugewonnen, ist vorbildlich in vielen Initiativen.

Nicht zuletzt hat das von ihm vorangetriebene Klimaschutzprogramm Tübingen in die komfortable Lage versetzt, in diesem Krisenwinter drei Viertel der benötigten Energie selbst zu erzeugen und dabei auch noch richtig viel Geld zu verdienen. Auch Palmers Corona-Management und das „Tübinger Modell“ wurden bundesweit kopiert.
Sheriff, Populist, Aufmerksamkeitsjunkie
Viel bekannter aber ist Boris Palmer seit Jahren für umstrittene Beiträge auf Facebook, Äußerungen in Talkshows und in seinen Büchern, für Sheriff-Jagdszenen in seiner Stadt, für eine Positionierung in Migrations- und Integrationsfragen, die quer gegen grüne Parteibeschlüsse stehen und die ihm Rassismus-Vorwürfe, Beifall von rechts und 2021 letztlich ein Parteiausschlussverfahren im Südwesten eingebracht haben.
Hier gilt Palmer als Populist, als Aufmerksamkeitsjunkie, der es nicht lassen kann, mit markanten Sprüchen die Schlagzeilen zu bedienen. Seine Parteimitgliedschaft ruht nun bis Ende 2023, das ist der Kompromiss mit dem Landesverband. Die Entscheidung ist vertagt, die Fronten sind verhärtet.
Parteikarriere in der Sackgasse
Und dann ist da noch sein Auftreten. Selbstherrlich, besserwisserisch, arrogant, nicht konsensfähig, Egoshooter statt Teamplayer, unbelehrbar – das sind die Attribute, die den gelernten Mathematik- und Geschichtslehrer seit Jahren ebenso verlässlich begleiten wie die Wertung hochintelligent.

Aus dem einstigen grünen Hoffnungsträger machten die verbalen Ausfälle hinsichtlich der Parteikarriere einen hoffnungslosen Fall. Auch einstige Förderer wie Winfried Kretschmann begegnen Fragen nach Palmers politischer Zukunft bei den Grünen nur noch mit Schulterzucken. Die Liste der prominenten Gegner bei den Grünen, die Boris Palmer für untragbar halten, ist lang.
Lange Liste der Unterstützer
Die Causa Palmer stürzt Tübingen nun aus seiner bürgerlich-akademischen Bräsigkeit in Wirren, bei denen in den Wochen vor der Wahl die Gräben tief waren, die Grenzen zwischen den politischen Lagern verwischt wurden und der Ausgang völlig offen ist. Die kleine Alternative Liste, die im Tübinger Gemeinderat eigentlich mit dem grünen Stadtverband zusammenarbeitet, unterstützt Palmer offiziell. Aber nicht nur die.
Palmers OB-Wahl-Homepage, die Unterstützer aus Tübingen und der ganzen Republik namentlich auflistet, liest sich wie ein „Who Is Who“ der grünen Gründungsjahre. Palmer lässt prominente örtliche Unterstützer reihenweise in Video-Statements zu Wort kommen. „Ich will“ ist ihr Slogan, und alle wollen sie Boris.
Palmer kann sich das leisten. Der Spendenaufruf seiner Wahlinitiative hatte ihm binnen kurzer Zeit die erbetene Summe von 100.000 Euro in die Wahlkampfkasse gespült – eine Summe, von der seine Konkurrenz nur träumen kann.

Da wäre zunächst Ulrike Baumgärtner, Ulli genannt, 43 Jahre alt, die seit langen Jahren in Tübingen für die Grünen Kommunalpolitik macht. Sie ist die Grüne, die mit Unterstützung der Partei Palmer das Rathaus abjagen will und soll. Baumgärtner war vor vielen Jahren Palmers Mitarbeiterin, man kennt sich, wie alle in Tübingen, das mehr ein Dorf ist als eine Stadt.
Das Verhältnis ist frostig, die beiden zoffen sich auch schon mal auf Wahlpodien, ansonsten hat man sich wenig zu sagen. „Wir gehen professionell miteinander um, ich brauche kein persönliches Verhältnis zu ihm“, sagt Baumgärtner beim Gespräch nach einer Veranstaltung in Tübingen. „Aber viele sagen mir, dass sie froh sind, eine Alternative bei der Wahl zu haben, und dass 16 Jahre einfach genug sind.“ Sie will nichts mit dem Oberbürgermeister-Modell Boris Palmer zu tun haben.
Ganz anders als „Sonnenkönig“ Palmer
„Es geht um einen Stilwechsel in der Politik“, sagt die promovierte Politikwissenschaftlerin, für die Palmer ein „Sonnenkönig“ ist. „Da habe ich ein ganz anderes Angebot. Es geht auch um die Frage: Wer entscheidet eigentlich in dieser Stadt? Und wie wird entscheiden?“
„Gemeinsam sind wir Tübingen“, heißt Baumgärtners zentrale Botschaft. Ob bei anderen Botschaften ihre Sachkenntnis ausreiche, wird in den Leserbriefspalten der örtlichen Tageszeitung derzeit ebenso heftig diskutiert wie die Frage, ob denn eine Auswärtige die richtige Antwort sei.

Die Auswärtige, das ist Sofie Geisel. 50 Jahre alt, von der SPD angeworbene und unterstützte Kandidatin mit Tübinger Studienwurzeln und SPD-Stammbaum: Ihr Vater ist Alfred Geisel, ehemaliger SPD-Abgeordneter für den Wahlkreis Aalen, 16 Jahre lang Vizepräsident des Landtags von Baden-Württemberg. Sofie Geisels Bruder Thomas war von 2014 bis 2020 Oberbürgermeister von Düsseldorf.
Man kennt sich in Tübingen
Auch Geisel kennt Boris Palmer schon seit gefühlten Ewigkeiten, seit beide zu Studienzeiten in Tübingen nebeneinander Wahlkampf machten, sie für die SPD, Palmer für die Grünen. Und sie schätzt ihn. Mittlerweile ist Geisel in der Geschäftsführung des Deutschen Industrie- und Handelskammertags in Berlin. Aber der Kontakt zu Palmer sei in den 23 Jahren, in denen Geisel schon in Berlin lebt, nie abgerissen, sagt sie.
„Er gehört zu meinem engeren Bekanntenkreis, wir haben uns immer wieder im privaten Rahmen getroffen. Da ging und geht es um vieles, aber selten um Politik“, so Geisel. Dünnhäutiger erlebe sie Palmer aber nach fast sieben Monaten Wahlkampf mittlerweile bei den Veranstaltungen, angespannter und auch zuweilen genervt.

Dass sich ihre inhaltlichen Positionen – wie auch die von Ulrike Baumgärtner – in weiten Punkten kaum von denen Palmers unterscheiden, wird im Wahlkampf immer wieder deutlich. Wohnraummangel, Verkehr, Klimaschutz, Fachkräftemangel – weit auseinander sind da alle drei nicht, abgesehen von einem großen Wohnbauprojekt und beim Thema Migration und Zuwanderung.
„Aber Führung ist eine Stilfrage, und Tübingen braucht einen neuen Politikstil“, sagt auch Geisel. Da ist es wieder, das Wort, das in Tübingen die Wahl entscheiden könnte. „Es melden mir viele Menschen zurück, dass sie es gut finden, dass ich antrete. Aber was das am Ende heißt, ob die mich auch wählen? Das kann ich nicht einschätzen“, bewertet sie ihre Chancen.
Lisa Federle hat sich schon entschieden – für Palmer
„Ganz schwer zu sagen ist das“, sagt auch Lisa Federle kurz vor der Wahl zur Stimmung in der Stadt. Die Notärztin, die das Tübinger Corona-Impf- und Testmodell ersann und mit Palmer umsetzte, ist ebenfalls mit dem Amtsinhaber freundschaftlich verbunden. Wäre es nach CDU und Freien Wählern gegangen, stünde Federle, seit Langem CDU-Mitglied, selbst auf dem Wahlzettel. Mit ihrer Popularität hätte sie wohl beste Chancen gehabt, aber eine Kandidatur kam für sie nicht in Frage, sagt sie.

Ihre Wahlentscheidung hat sie längst getroffen. „Ich wähle Boris Palmer, das ist kein Geheimnis“, sagt Federle. „Ich habe ihn jahrelang als OB erlebt als jemanden, der sehr schnell begreift, reagiert und Dinge anpackt. Vor allem durch unsere Zusammenarbeit in der Corona-Krise. In den Krisen, die jetzt kommen, braucht es so jemanden. Er hat natürlich seine Schwachpunkte. Aber unwählbar ist er deswegen für mich nicht.“ Für andere dagegen schon, weiß sie.
Palmer selbst schlägt auf den letzten Metern vor der Entscheidung ungewohnte Töne an. Er werde wohl sein Leben lang mit seiner Impulskontrolle kämpfen müssen, gesteht er öffentlich beim größten Kandidatenpodium in Tübingen. In seinem 90-sekündigen Abschluss-Statement an die Tübinger nennt er dann noch eine Bitte und drei Angebote.
Die Angebote betreffen Sachthemen, die er in den nächsten acht Jahren voranbringen will. Die Bitte betrifft ihn selbst. „Wenn ich Sie in den letzten 16 Jahren verärgert habe – verzeihen Sie mir“, erbittet er. Ein demütiger Boris Palmer? Das wäre dann tatsächlich ein ganz neuer Politikstil.