Herr Wittkamp, lassen Sie uns als Erstes mit einigen Mythen aufräumen: Macht Onanieren blind oder führt zu einem Schwund des Rückenmarks?

Völliger Quatsch. Die katholische Kirche hat das einst in die Welt gesetzt, um Jungs vom Masturbieren abzuhalten.

Tausend Schuss und dann Schluss?

Ebenfalls Unfug, aber mit einem Körnchen Wahrheit, weil die Fruchtbarkeit des Mannes mit den Jahren nachlässt. Deshalb würde ich davon abraten, im hohen Alter noch Nachwuchs zeugen, weil das Risiko einer Fehlbildung immer größer wird.

Davon abgesehen hat in Großbritannien Sex die Gartenarbeit vom Spitzenplatz der bevorzugten Hobbys älterer Menschen verdrängt, und dagegen ist auch nichts einzuwenden. Viele Frauen verzichten nach der Menopause auf Verhütung, weil sie nicht mehr schwanger werden können, weshalb auch die Zahl der Geschlechtskrankheiten bei Senioren zugenommen hat.

Volker Wittkamp, 40, ist Facharzt für Urologie und arbeitet in einer ambulanten Reha in Hennef. Er ist Kolumnist, Autor und Ratgeber für ...
Volker Wittkamp, 40, ist Facharzt für Urologie und arbeitet in einer ambulanten Reha in Hennef. Er ist Kolumnist, Autor und Ratgeber für urologische Themen: auf Tiktok als @doktorsex und auf Instagram als @docintro. | Bild: Piper-Verlag

Es kommt nicht auf die Größe an: Stimmt das, oder sagen Frauen das nur, um ihre Partner zu trösten?

Das muss man relativieren: Die Zahlen, die im Internet kursieren, sind Durchschnittsgrößen. Abweichungen von einigen Zentimetern nach oben oder unten sind also ebenfalls noch völlig normal. Den meisten Frauen ist die Größe tatsächlich nicht wichtig, zumal sie bei der Befriedigung keine Rolle spielt, aber es gibt natürlich unterschiedliche Vorlieben. Das ist bei Männern nicht anders: Die einen stehen eher auf größere Brüste, andere bevorzugen kleinere.

Wie die Nase des Mannes, so sein Johannes?

Es gibt eine einzige Studie aus Japan, die eine gewisse Korrelation festgestellt hat, aber alle anderen sind zu einem eindeutigen Ergebnis gekommen: Auch das ist ein Mythos.

Die meisten männlichen Jugendlichen haben Erfahrung mit Pornografie im Internet. Die Männer dort sind ausnahmslos gut bestückt und allzeit bereit. Wie kommen die Jungs damit klar?

Ich vergleiche das gern mit Filmen über Superhelden. Kinder lernen früh, zwischen Fiktion und Wirklichkeit zu unterscheiden, zumal sie wissen, dass Menschen nicht fliegen können. Pornofilme sind ebenfalls Fiktion, hier ist alles inszeniert, selbst die gezeigten Spermamengen sind nicht real. Ich merke jedoch an den Fragen, die mir auf meinem TikTok-Kanal gestellt werden, dass die Darbietungen in den Pornos bei vielen Jugendlichen falsche Vorstellungen wecken. Hier wäre Aufklärung dringend geboten.

Zum Beispiel im Schulunterricht?

Da stellt sich die Frage, ob man sich wirklich mit seiner Biologielehrerin über solche Dinge unterhalten will. Ich würde den Schulen raten, externe Teams zu engagieren, mit denen die Schülerinnen und Schüler offen über ihre Probleme reden können.

Ein mögliches Thema wäre Erektionsschwäche. Was raten Sie jungen Männern in solchen Fällen?

Einfach weitermachen. Das ist ganz normal und passiert jedem mal, vor allem, wenn Aufregung mit im Spiel ist. Wenn man das nicht weiß, verselbständigen sich die Gedanken und erzeugen Angst vorm nächsten Mal. Auch da ist Aufklärung wichtig, und zwar für beide Geschlechter, damit eine junge Frau ihren Freund nicht für einen Schlappschwanz hält.

Wenn es nicht an der Aufregung liegt?

Dann stellt sich als Erstes die Frage, ob der Penis grundsätzlich streikt. Ist das nur beim Geschlechtsverkehr der Fall, hat es höchstwahrscheinlich psychische Gründe. Auch die morgendliche Erektion ist ein untrüglicher Hinweis darauf, dass mit der Anatomie alles in Ordnung ist: Das Gerät funktioniert, aber bei der Bedienung stimmt was nicht. Je jünger die Patienten sind, desto eher liegen die Ursachen im Kopf.

Und wie verhält sich das bei älteren Männern?

Der Klassiker sind Gefäßverkalkungen. Im Penis befinden sich die dünnsten Blutgefäße des Körpers. Wenn die verstopft sind und das Blut deshalb nicht mehr durchfließen kann, ist auch keine Erektion möglich. Eine andere Ursache ist Diabetes mellitus. Die Zuckerkrankheit greift die Nerven an und behindert die Reizwidergabe von Hirn in den Penis. Oft ist Erektionsschwäche auch eine unerwünschte Nebenwirkung, etwa von Medikamenten gegen Bluthochdruck.

Jeder Arzt rät zu gesunder Ernährung, Sie auch: „Der Penis isst mit“, schreiben Sie. Raucht er auch mit?

Rauchen ist tatsächlich eine der häufigsten Ursachen für Erektionsprobleme, aber auch für Unfruchtbarkeit, weil die Qualität der Spermien geschädigt wird. Meine Mutter hat immer gesagt: „Rauche nicht, trinke nicht, ernähr‘ dich gut und treibe Sport“.

Und, halten Sie sich dran?

Nicht so konsequent, wie ich sollte. Aber es stimmt natürlich: Bewegung und ausgewogene Ernährung sorgen für eine gute Durchblutung aller Organe. Viele Menschen greifen stattdessen lieber zu fragwürdigen Präparaten, deren Wirkung, wenn überhaupt, allenfalls minimal ist.

Seit Sigmund Freud kursieren Begriffe wie phallische Phase, Kastrationsangst und Penisneid. Wird die Bedeutung des männlichen Glieds nicht überschätzt?

In einem Punkt irrte Freud: Kastration ist die Entfernung der Hoden; was er meinte, ist Penektomie. Aber gerade weil so viel in den Penis hineingeheimnisst wird, plädieren Oliver Stöwing und ich in unserem Buch für mehr Lockerheit. Der Penis ist besetzt mit Ängsten, Sorgen, Erwartungen und falschen Vorstellungen, heute mehr als je zuvor.

Warum ist das so?

Das hat nicht zuletzt mit dem Feminismus zu tun. Menschen mit Penis müssen sich für die Taten all‘ ihrer Vorfahren in den vergangenen Jahrtausenden rechtfertigen. Das kann man zwar als ausgleichende Gerechtigkeit bezeichnen, aber gerade für Jugendliche ist es heute nicht einfach, ein Mann zu sein.

Bild 2: "Doktorsex": Urologe klärt über verbreitete Penis-Mythen auf
Bild: Piper Verlag

Lesetipp: Volker Wittkamp und Oliver Stöwing: Gut aufgestellt. Alles über den Penis, Piper-Verlag, 336 Seiten, 18 Euro.