von Claudia Wagner

Der Kaffeetisch ist reich gedeckt: mit Marmelade aus dem eigenen Garten, selbstgebackenem Kuchen, Pralinen, Keksen und Kaffee empfängt Isolde Robertus ihren Gast. Als Gastgeberin strahlt sie Perfektion aus und diese Haltung merkt man auch ihrer gewählten Sprache an.

Doch das ist nur die Oberfläche. Isolde Robertus lebt seit 1991 in Deutschland, heute in einer Eigentumswohnung in Singen. Sie wurde 1945, im letzten Jahr des Zweiten Weltkriegs, in Kasachstan geboren, wohin ihre Eltern deportiert worden waren. „Meine beiden Eltern sind dort geblieben. Sie starben, bevor wir ausreisen konnten“, sagt sie und ihre Augen sind plötzlich mit Tränen gefüllt. „Meine Eltern wollten immer in die Wolgarepublik zurück.“ Dort lebten vor dem Krieg zehntausende Deutschstämmige vorwiegend als Nachkommen jener Siedler, die Zarin Katharina II. die Große in den 1760er-Jahren nach Russland eingeladen und ansässig gemacht hatte.

In jenem Satz von Isolde Robertus spiegelt sich das bewegte Schicksal der Familie. Im Spätsommer 1941, nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, wurde die Familie Jürgenson, die Eltern Isolde Robertus‘ mit damals fünf Kindern, von der Wolgarepublik nach Kasachstan zwangsumgesiedelt. Die Deportationen beruhten auf einem Erlass des Diktators Josef Stalin vom 28. August 1941: Alle Deutschen sollten möglichst weit weg von der Front gebracht werden, wo die Deutschen immer weiter nach Osten vorrückten. Den Siedlern warf man vor, mit Nazi-Deutschland zu kollaborieren.

Die Familie Jürgenson reiste in Viehwaggons, eine Toilette gab es nicht. Einen ganzen Monat lang seien sie unterwegs gewesen, berichtet Isolde Robertus, die diese Geschichte nur aus den Erzählungen ihrer Eltern kennt. „Sie konnten damals kaum etwas von ihrem Besitz mitnehmen, außerdem gingen sie fest davon aus, dass sie in ein paar Monaten wiederkommen.“ Die Reise müsse grauenhaft gewesen sein, so viel weiß Isolde Robertus. Zu Essen gab es wenig, Brot und getrocknetes Fleisch habe die Familie mitgenommen. Ihre Mutter sei zu diesem Zeitpunkt schwanger gewesen, das Kind habe sie jedoch verloren. Ein weiterer dreijähriger Junge sei auf der Fahrt erblindet, weil er an Röteln erkrankte. Auch er starb später. Die anderen Kinder, Frieda, damals 16, Pauline, 9 Jahre, und David, sieben Jahre alt, überlebten und kamen mit den Eltern in einem Aul, einem kasachischen Dorf, an. Die Begrüßung sei nicht angenehm gewesen: „Wenn ihr hier verreckt, ist es recht“, hätten ihre Eltern von einem Ordnungshüter zu hören bekommen.

Viktor Krieger, der als Osteuropa-Historiker an der Universität Heidelberg die Geschichte der Wolgadeutschen erforscht, bestätigt die Berichte Isolde Robertus‘: Die Deportierten durften lediglich Bargeld, wenige Lebensmittel, Bettzeug und Kleidung mitnehmen, schreibt er. Dies habe zur weitgehenden Verelendung dieser Volksgruppe geführt. Eine Ausführungsverordnung sollte der Enteignung den Schein einer geordneten Umsiedlungsaktion verleihen. Sie habe sogar eine Teilentschädigung in den neuen Ansiedlungsorten vorgesehen. Die reale Wirtschaftslage in den abgelegenen Zielregionen machten diese Versprechungen jedoch zunichte.

„Eine Kasachin erbarmte sich und nahm die ganze Familie bei sich auf“, berichtet Isolde Robertus weiter. Die Kasachen seien selbst sehr arm gewesen, die Frau aber teilte auch das Essen mit den Neuankömmlingen. Später, als Isolde bereits geboren war, lebte die Familie in einem einzigen Raum. „Im selben Raum lebte unsere Kuh“. Isolde Robertus erinnert sich, wie ihre Schwester Frieda die Kuh jede Stunde gemolken habe und jedem Familienmitglied einen Löffel Milch gab. Was Hunger bedeutet, wussten damals Erwachsene wie Kinder.

Drei Tage in der Haftzelle

Die ersten Jahre in Kasachstan hielten noch weitere Härten bereit. Als Isolde Robertus‘ Vater in einem Nachbardorf Kartoffeln gegen Brot tauschen wollte, wurde er erwischt: Deutschen war es nicht erlaubt, das eigene Dorf zu verlassen: drei Tage habe er in einer Gefängniszelle verbracht. Später habe ihr Vater dann Arbeit in einer Fischfabrik in Krasnoarmejsk gefunden. „Auch Paulina, Emma und Frieda haben dort gearbeitet. Ab diesem Moment ging es aufwärts.“

Bild 1: Vor 75 Jahren: Als Stalin den Wolgadeutschen die Heimat nahm

Die vier Familienmitglieder brachten Fisch nach Hause, die Familie ernährte sich hauptsächlich davon oder tauschte den Fisch gegen andere Lebensmittel. Erst 1956, nach dem politischen Bruch mit dem Erbe des Stalinismus und seinen Verbrechen, erfolgte das Ende der Kommandantur und die Deutschen durften sich in Kasachstan frei bewegen. Die Familie Jürgenson zog nach Koktschetaw, der Vater fand Arbeit in einer Baufirma. Als Zweitjüngste besuchte Isolde die Schule und durfte danach studieren. Zwar hatte sich zu diesem Zeitpunkt vieles im Verhältnis zur deutschen Minderheit normalisiert.

Diskriminierung gab es aber nach wie vor. Isolde Jürgenson wollte Lehrerin werden, das war jedoch für Deutsche beinahe ausgeschlossen. „Allerdings brauchten sie damals Deutschlehrer“. 1971 schloss sie ihr Staatsexamen mit ausgezeichneten Noten ab und unterrichtete an einer Realschule. Noch einmal erlebte sie die Grenzen ihrer Karrieremöglichkeiten, als die Schule ihr anbot, Rektorin zu werden. Von den Behörden bekam sie zu hören: „Haben Sie vergessen, welcher Nationalität Sie sind?“ Letztlich wechselte Isolde Robertus an eine Pädagogische Hochschule und unterrichtete dort.

Ob sie in Deutschland manchmal Sehnsucht nach dem vertrauten Kasachstan gehabt habe? Das verneint Isolde Robertus. Mit den Kasachen aber habe sie sich gut verstanden, sie schätze die gastfreundliche Mentalität. „Sie sind mir ans Herz gewachsen. Ich höre auch gerne ihre Musik.“ Dass sie auch in Deutschland manchmal als Fremde betrachtet werde, schmerzt die 71-Jährige: „In der Sowjetunion waren wir die Faschisten. Hier sind wir die Russen.“ Hoffnung gibt ihr hingegen der Lebensweg ihrer Enkel, die in Deutschland vollständig integriert sind: „Sie haben es geschafft.“
 

Buchtipp: Viktor Krieger: Bundesbürger russlanddeutscher Herkunft: historische Schlüsselerfahrungen und kollektives Gedächtnis. Münster, Lit-Verlag 2013, 272 Seiten, Preis 29,90 Euro.