Angela Stoll

„Vogelscheuche“: ein ganz schön schwieriges Wort für einen Leseanfänger. Der Zweitklässler Levi setzt mit „Vogel“ an, kommt ins Stocken, kämpft sich zu „Sche“ weiter und bleibt dann endgültig hängen. Der große beige Hund zu seinen Füßen rührt sich nicht. Ihn scheint es nicht zu stören, dass Levi über die „Vogelscheuche“ gestolpert ist. Der massige Hundekörper liegt einfach nur da und strömt Wärme aus. Levi versucht es erneut. „Vogelscheuche“ liest er diesmal flüssig und klar.

Neben ihm sitzt Kimberly Ann Grobholz mit ihrer Hündin Tammy und hakt nach: „Tammy möchte gern wissen, was eine Vogelscheuche ist.“ Kein Problem für Levi. Er setzt zu einer wortreichen Erklärung an: „Das ist so 'ne Puppe aus Stroh, die verkleidet ist. Die sieht dann böse aus. Dann bekommen die Vögel Angst.“ Der Golden Retriever ist zufrieden und atmet gleichmäßig weiter. Hat er alles verstanden?

Der „Lesehund“ wird immer beliebter

Seit rund eineinhalb Jahren besucht Grobholz mit einer Kollegin und zwei Hunden regelmäßig die Sinai-Ganztages-Grundschule in München. Sie ist eine der Einrichtungen, an denen Grobholz ihr „Lesehund“-Konzept anbietet. Dabei geht es im Kern darum, dass Kinder regelmäßig Hunden vorlesen, um ihre Lesekompetenz zu verbessern. Was zunächst einigermaßen kurios klingt, wird derzeit in Deutschland immer beliebter: Inzwischen hat Grobholz mehr als 80 ehrenamtliche Lesehunde-Teams ausgebildet, die vor allem in Schulen ihre Dienste anbieten.

In der Sinai-Schule dürfen sechs Kinder den Hunden einmal pro Woche je 20 Minuten vorlesen. Das Material hat Grobholz ausgesucht: Büchlein mit kurzen Geschichten und vielen Bildern, die in unterschiedlichen Schwierigkeitsgraden angeboten werden. Sie wählt die Hefte so aus, dass die Kinder sie als einfach empfinden. Ziel der Aktion ist nämlich, Ängste abzubauen und das Selbstvertrauen zu stärken. Und genau dabei sollen die Tiere helfen.

Es gibt auch andere Initiativen, die Tiere zu pädagogischen Zwecken einsetzen, etwa das „Kids4Cats“-Projekt: Dabei lesen Kinder Tierheim-Katzen vor – was beiden Seiten zugute kommen soll. Praktiziert wird dies unter anderem in München. Die Idee dazu stammt aus den USA, wo Tiere bereits seit den 90er-Jahren zur Leseförderung eingesetzt werden. Auch Grobholz hat die Idee für ihr Lesehund-Projekt aus ihrer amerikanischen Heimat mitgebracht.

Es ist ein einzigartiges Projekt: Bei "Kids4Cats" treffen Schüler mit einer Leseschwäche auf Katzen im Tierheim. Während die Kinder ihre ...
Es ist ein einzigartiges Projekt: Bei "Kids4Cats" treffen Schüler mit einer Leseschwäche auf Katzen im Tierheim. Während die Kinder ihre Lesefähigkeiten verbessern, gewöhnen sich die Tiere wieder an Menschen. | Bild: N24

Echte Leseratten

Dort lesen Kinder längst nicht nur Hunden und Katzen, sondern auch Kaninchen, Meerschweinchen, Papageien, Hühnern und sogar Ratten vor. „Es gibt also tatsächlich Leseratten“, sagt Grobholz' Kollegin Tanja Frauendörfer.

Ihre schwarze Labrador-Dame Frida hat es sich bei Oskar gemütlich gemacht, der ihr gerade ein Fußball-Buch vorliest. Frida wackelt ein bisschen mit ihren Schlappohren und scheint andächtig zuzuhören. Der Viertklässler Oskar, der inzwischen flüssig liest, ist sowohl für das Lesehund-Team als auch für seine Lehrerinnen ein extremes Beispiel dafür, wie positiv sich diese Form der Leseförderung auswirken kann.

Wenn man ihn munter plappernd erlebt, ist kaum vorstellbar, dass er vor einigen Monaten extrem schüchtern war. „In den ersten drei Jahren hat er im Unterricht nicht gesprochen“, berichtet Grobholz. Nachdem er aber angefangen hatte, regelmäßig Tammy vorzulesen, ging eine Wandlung mit ihm vor: „Nach ein paar Wochen hat er in der Schule von dem Hund erzählt und sich allmählich geöffnet.“

Inzwischen hat er sogar ein Referat vor der Klasse gehalten. Nicht nur leseschwache, sondern auch schüchterne Kinder profitieren nämlich vom Leseprojekt, wie Grobholz betont. „Das liegt unter anderem daran, dass sich die Kinder in der Gegenwart eines Hundes entspannen.“ Außerdem kritisiert ein Tier sie nicht, wenn sie sich beim Lesen verhaspeln, und es lacht sie nicht aus – das tut Kindern, die an sich zweifeln, gut.

Jede Gelegenheit zu lesen ist gut

Es ist eine Binsenweisheit: Lesen lernen kann man nur durch lesen.
Es ist eine Binsenweisheit: Lesen lernen kann man nur durch lesen. | Bild: Pezibear / Pixabay

Beim Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie sieht man die Lesehund-Projekte grundsätzlich positiv. „Jede Gelegenheit, die Kinder mit Leseschwäche nutzen, um zu lesen, ist gut“, sagt Sprecherin Annette Höinghaus. „Ein entspanntes Umfeld ist für sie wichtig.“ Wissenschaftlich bewiesen sei der Nutzen aber nicht.

Doch es gibt erste Studien, die darauf hindeuten, dass an der Sache etwas dran ist: So begleitete Stephanie Berner, Grundschulpädagogin an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ein Jahr lang zehn leseschwache Grundschüler, die an Grobholz' Lesehund-Projekt teilnahmen. Am Ende der Zeit hatten sich sowohl die Lese- als auch die Schreibfähigkeiten der Zweit- und Drittklässler deutlich verbessert, wie Berner sagt: „Wir haben tolle Fortschritte bei den Kindern festgestellt.“

Die Erfolge erklärt sie unter anderem damit, dass sich die Schüler entspannen, wenn sie Kontakt zum Lesehund haben. „Wer entspannt ist, lernt besser“, sagt sie. Dass der Kontakt zum Hund tatsächlich beruhigend wirkt, zeigte Berner anhand von Speichelproben, die sie den Kindern nach der Leseeinheit entnahm: Die Durchschnittswerte des Stresshormons Cortisol lagen bei allen Teilnehmer unter den altersüblichen Werten, wie die Pädagogin berichtet.

Ähnlich positive Ergebnisse brachte eine Studie der Oldenburger Pädagogin Meike Heyer und der Erlanger Psychologin Andrea Beetz. Sie beobachteten 16 leseschwache Drittklässler, die an einem mehrmonatigen Förderprogramm teilnahmen. Eine Hälfte übte Lesen mit einem Stoffhund, die andere Hälfte mit einem echten Hund. Am Ende zeigte sich, dass sich die Teilnehmer der zweiten Gruppe hinsichtlich ihrer Lesekompetenz deutlich stärker verbessert hatten als die Schüler der Kontrollgruppe.

Lesen als etwas Gutes sehen

Bei den Erklärungsansätzen spielt Beetz zufolge der Körperkontakt eine wichtige Rolle. Wenn man ein Tier streichelt, produziert der Körper nämlich vermehrt das beruhigende „Bindungshormon“ Oxytocin. Abgesehen davon steigert das Beisein eines Hundes aber auch die Motivation und Konzentrationsfähigkeit, wie die Psychologin berichtet. „Das Thema Lesen ist für leseschwache Kinder oft negativ besetzt“, fasst Beetz zusammen. „Durch die Leseförderung mit Hund wird es für die Schüler zu etwas Positivem.“

Und was halten eigentlich die Hunde von den Schmöker-Stunden? Der Kontakt zu so vielen Kindern kann für die Tiere anstrengend sein. „Man muss die Stresssignale beim Hund erkennen“, sagt Grobholz. Überhaupt könnten nur ausgeglichene und gehorsame Tiere Lesehunde werden. Doch Frida und Tammy liegen auch nach Ende der Leseeinheiten noch regungslos am Boden. Weil sie so brav waren, bekommen sie von Oskar – wie immer – ein Leckerli.