Martin Schäfer

Wer auf der Autobahn A 81 Rottweil passiert, kann die riesige Betonkerze inzwischen nicht mehr übersehen. 244 Meter ist sie hoch. Wenn im Frühjahr mit der Montage der Verkleidung begonnen wird, kommen noch zwei Meter hinzu. Zeitgleich mit der Festigstellung des Rohbaus am Testturm hat der Aufzugsbauer Thyssenkrupp auch weitere Details seiner seillosen Aufzüge vorgestellt. Im Turm sind drei von zwölf Aufzugsschächten für ein neuartiges System reserviert, das der Hersteller „Multi“ nennt. Es arbeitet wie ein klassischer Paternoster-Aufzug: In einem Schacht bewegen sich mehrere Aufzugskabinen gleichzeitig in eine Richtung. In der Multi-Variante können sie aber individuell gesteuert werden und sogar zwischen den Schächten wechseln. Die Technik ist von der Magnetschwebebahn Transrapid abgeschaut: Ohne Seile bewegen sich die Kabinen mit der Kraft von Elektromagneten. „Dadurch erhöht sich die Transportkapazität pro Schacht um 50 Prozent“, erklärt Andreas Schierenbeck, Geschäftsführer von Thyssenkrupp Elevator. Zugleich sinkt die Zahl der benötigten Aufzugsschächte in einem Hochhaus. Dennoch verdoppelt sich die Nutzfläche.

Die Darstellung zeigt eine künftige Anwendung der neuen Thyssenkrupp-Aufzugstechnik in einem Hochhaus. In einem Schacht können mehrere ...
Die Darstellung zeigt eine künftige Anwendung der neuen Thyssenkrupp-Aufzugstechnik in einem Hochhaus. In einem Schacht können mehrere Kabinen fahren. Sie sind auch horizontal beweglich, was insgesamt eine kreisförmige Fahrt ermöglicht. Dadurch stehen immer genügend Kabinen zur Verfügung. Eine Steuerung vermeidet Kollisionen.

Jetzt gibt es die Technik auch zum Anfassen: Im spanischen Gijon, wo Thyssenkrupp ein Entwicklungszentrum betreibt, hat das Team von Schierenbeck erstmals einen Prototypen dieser Transrapid-Aufzüge vorgestellt. Das Vorführmodell ist im Maßstab 1:3 drei verkleinert. Die Kabinen sind daher nur so groß wie Kühlschränke.

Magnetfelder statt Stahlseil

Herzstück ist eine Art Technik-Rucksack an der hinteren Kabinenwand. Darin befindet sich der kabinenseitige Teil der Magnetschwebe-Einheit: Zwei Führungselemente mit Permanentmagneten und eine mechanische Bremse. Im Schacht verlaufen zwei Antriebsschienen, die in die Führungselemente des Rucksacks eingreifen und mittels magnetischer Felder die Kabine schwebend halten oder bewegen. Man spricht von einem Linearmotor. Er ist dem Antrieb des Transrapid vergleichbar, bei dem die Elektromagneten in der Fahrbahn den Zug bewegen.

Sicherheit ist wichtig: Durch Sensoren wird die Position des Fahrstuhls im Schacht tausendmal pro Sekunde erfasst und stabil gehalten. Der Luftspalt zwischen Antriebsschienen und Führungselementen der Kabine beträgt dabei zwei Millimeter. „Wir haben dafür ein sehr akkurates Führungssystem entwickelt“, sagt Thyssenkrupp-Forscher Markus Jetter.

Ein weiteres Schlüsselbauteil ist der Exchanger. Der dreht den Rucksack der Kabine bis zu um 90 Grad und führt jene so auf die horizontalen Streckenabschnitte. So können die Kabinen den Schacht wechseln. Da der führende Rucksack an der Kabinenhinterwand drehbar ist, wären auch schräg gestellte Aufzugsschächte, die wie eine Rolltreppe verlaufen, denkbar, erklärt Karl-Otto Schöllkopf von Thyssenkrupp. Für Architekten bietet das ganz neue Möglich keiten. Denn der konventionellen Aufzugstechnik sind Grenzen gesetzt. Das Eigengewicht ihrer Stahlseile schränkt die Aufzugslänge auf rund 800 Meter ein. Daher muss, wer nach ganz oben will, umsteigen. Und das kostet Zeit.

Das Modell (1) im Maßstab 1:3 zeigt, wie die neue Aufzugstechnik von ThyssenKrupp funktioniert. Die Kabinen (2) gleiten an zwei ...
Das Modell (1) im Maßstab 1:3 zeigt, wie die neue Aufzugstechnik von ThyssenKrupp funktioniert. Die Kabinen (2) gleiten an zwei Antriebsschienen (3) nach oben oder unten. Sie werden durch Elektromagnete in den Schienen bewegt, gebremst und festgehalten. Ein Stahlseil gibt es nicht. Auf der Rückseite der Kabine (4) liegt das Gegenstück zur Antriebsschiene, ein drehbares Gestell mit Laufrollen (5). Sie greifen in die Führungsschiene ein. Das um bis zu 90 Grad drehbare Gestell ermöglicht es, an Knotenpunkten (6) die Richtung der Kabinen von der Vertikalen in die Horizontale (oder umgekehrt) zu wechseln. So können die Kabinen bei Bedarf in einen anderen Schacht verschoben werden. Auch eine diagonale Bewegung, vergleichbar der Steigung einer Treppe, ist möglich.

Mit dem Multi-Aufzug ist die Länge eines Aufzugsschachts prinzipiell unbegrenzt. Damit sind auch Gebäudehöhen jenseits der 1000-Meter-Marke, die längst im Entwurfsstadium sind, in Reichweite. Ferner passt das Magnetschwebe-Konzept zum Trend im Hochhausbau, Gebäudeensemble in luftiger Höhe zu verbinden, wie bei den Petronas-Towers in Kuala Lumpur (Malaysia). „Wir brauchen für die Gebäude eine Vielzahl an Verknüpfungen“, sagt Dario Trabucco, Gebäudeforscher von der Universität in Venedig. Aus zwei Gründen: Die Architekten wollen Ensembles von Hochhäusern zu vertikalen Städten verbinden. Eine Vielzahl von Verbindungsbrücken steigert Komfort und Sicherheit im Brandfall.

Bild 5: Der Thyssenkrupp-Testturm bei Rottweil

Dem schließt sich auch Karl-Otto Schöllkopf von Thyssenkrupp an. Im Jahr 2050 sollen Prognosen zufolge 70 Prozent der Weltbevölkerung in den Städten leben. Derzeit sind das 50 Prozent. Die Nachfrage an Mega-Hochhäusern wird steigen. „Es gibt einen Trend zu Gebäuden über 300 Metern“, sagt Schöllkopf. Die Architekten wollen in diese Wolkenkratzer verschiedene Service-Angebote des täglichen Lebens integrieren: Shops, Hotels, Gastronomie, medizinische Versorgung, Fitnessstudios, Büros und Wohnungen. „Alles das soll in den Gebäuden angeboten werden“, sagt Schöllkopf. Eine Stadt in der Vertikalen.

 

Animationsfilme über den Rottweiler Testturm und den Einsatz des Aufzugs