Brasilianer können sehr empfindlich sein. Als deutsche Journalistin sollte man daher mit Fragen zu jenem 7:1-Erfolg der Nationalmannschaft im WM-Halbfinale gegen Brasilien vorsichtig sein. Man umkreist das Thema, spricht es auch bei Pressekonferenzen besser nicht zu forsch an. Tite, der Nationalcoach der Südamerikaner, hat allerdings weniger Vorbehalte. „Das 7:1 ist ein Fakt, an den man sich gewöhnen und mit dem man natürlich umgehen muss.“ Tite ist ein Meister der Psychologie, der mit einem Befreiungsschlag in den Angriff übergeht.
So schön waren die Tore:
„So lange es kein neues Spiel gibt, wird über dieses gesprochen, werden Witze gemacht“, sagt Tite. „So wie es nach dem Finale der Weltmeisterschaft 2002 war, da wurden Witze über den Fehler von Kahn gemacht und über die Tore von Ronaldo.“ Dann versucht er, die Brisanz aus dem Spiel, dem ersten zwischen Deutschland und Brasilien nach dem 7:1 vom 8. Juli 2014, herauszunehmen. Die Partie heute Abend in Berlin (20.45 Uhr/ZDF) sei eine ganz andere, wenngleich wichtig in der Vorbereitung auf die WM in Russland.
Eine Revanche, wie es vielerorten hieß, davon ist in Brasilien an diesem Sonntagabend der Fußballfan Alexandre Abreu Gontijo aus Rio de Janeiro ebenso überzeugt wie der Kellner David in einer Churrascaria, kann es nur geben, wenn Brasilien bei einer Weltmeisterschaft in Deutschland mit 7:1 gegen Deutschland gewinnt. „Leider wird jene Niederlage in der Geschichte eingeschrieben bleiben. Wir haben jedoch die Chance, eine neue Geschichte zu schreiben“, sagt Renato Augusto, der ehemalige Spieler von Bayer Leverkusen, der Tites verlängerter Arm der Seleção ist.
Das waren damals unsere Spielernoten
„Das ist schon Teil der Vergangenheit und ich glaube, dass alle aus dem gelernt haben, was passiert ist.“ Tite jedenfalls soll sich das Video des Spiels unzählige Male angeschaut haben. Er wird gesehen haben, was passiert, wenn Spieler wie Innenverteidiger David Luiz ihre Positionen verlassen, um in dem patriotischen Versuch, Spiel und Land zu retten, nach vorne stürmen. Die Mannschaft fiel auseinander, in sich zusammen wie ein Kartenhaus.
Für die Brasilianer war es ein Realitätsschock. Sie, die so gerne Erste Welt wären, aber so weit davon entfernt sind, übertrugen dies vom Fußball auf ihr Land. Seit dem 1:7 scheint es mit Brasilien, das Ende der 2000er-Jahre gerüstet für die Zukunft schien, fast nur noch bergab gegangen zu sein. Manche sagen, Präsidentin Dilma Rousseff wäre noch im Amt, wenn die Seleção die WM gewonnen hätte. Korruptionsskandale erschüttern stattdessen das Land, das in einer politischen und wirtschaftlichen Krise steckt.
Das 1:7 ist zum Synonym für alles Missratene geworden. Neymar sollte in einem Land, das nach Helden lechzt, positive Stimmung verbreiten. Doch so wie der Superstar von Paris Saint-Germain und der brasilianischen Nationalmannschaft das wichtige Achtelfinal-Rückspiel in der Champions League mit PSG gegen Real Madrid verpasste, fehlt er auch wie im WM-Halbfinale gegen Deutschland verletzt. Damals war ihm der Kolumbianer Juan Zuñiga so heftig in den Rücken gesprungen, dass Neymar nach eigenen Angaben fast gelähmt worden wäre.
Von seiner Operation am Mittelfußknochen, den er sich jüngst gebrochen hat, erholt Neymar sich in seinem Anwesen in Mangaratiba im Bundesstaat Rio de Janeiro, wo auch viele der Politiker, die wegen Korruption im Gefängnis einsitzen, Grundstücke und Häuser haben. Von hier veröffentlicht er Fotos und Videos in sozialen Netzwerken singend mit seinem kleinen Sohn Davi Lucca oder posierend mit Flamengos Vinicius Jr., der der nächste Superstar werden könnte.
Interessant zu sehen sein wird, wie sich Brasilien ohne Neymars Zauber gegen Deutschland präsentiert, auch wenn Tite die „Neymardependência“, die Abhängigkeit von Neymar, reduziert hat. „Neymar ist sowohl als Spieler als auch als Mensch herausragend. Wir werden ihn auf dem Platz sehr vermissen, aber die Gruppe ist sehr vereint“, sagt der ehemalige Kölner Pedro Geromel, Copa-Linertadores-Sieger mit Grêmio Porto Alegre. Brasilien ist dabei kein Land, das Vergangenheitsbewältigung betreibt; es heißt sogar, Brasilien sei ein Land ohne Gedächtnis. Nicht, dass das 7:1 deswegen vergessen wäre; die gute Phase von Tite, mit zehn Siegen und zwei Remis in der WM-Qualifikation, hat jedoch das Selbstbewusstsein wieder gestärkt. Ein schlechtes Ergebnis heute Abend in Berlin wäre somit ein Rückschlag. Mehr aber auch nicht.