Für das Brauchtum war 1991 ein denkwürdiges Jahr. Erst wurde der Karneval in den rheinischen Hochburgen abgesagt, dann folgten die Narrenzünfte im Südwesten auf geradem Fuß. Die Präsidenten des organisierten Brauchtums gaben nach: Sie wichen der diffusen Angst vor Anschlägen. Sie knickten vor dem moralischen Druck ein, der durch den Beginn des 1. Golfkriegs entstanden war. Darf man am Bodensee oder im Schwarzwald feiern, wenn am Persischen Golf US-Soldaten kämpfen und womöglich fallen?
Die Frage wurde damals verneint. Der Druck auf die Zunftmeister war zu groß geworden und medial verstärkt, dass sie nicht anders konnten. Sie wurden geradezu in die Rolle der Verzichtenden gedrängt. Fasnacht, der Inbegriff von Frohsinn und Leichtsinn, durfte einfach nicht sein – wenigstens im öffentlichen Raum und derart programmatisch vorgetragen.
Dem Frohsinn wurde Abstinenz verordnet
In der Rückschau, die nicht schöner, aber klüger macht, erkennt man ein zweites Motiv für die Entsagung: Es war neben der Solidarität mit den USA und ihren Verbündeten auch das schlechte Gewissen der Deutschen, für das Fuchsschwanz und Häs herhalten mussten. Während neben den USA auch europäische Mächte in den Irak zogen, blieb die Bundeswehr zuhause. Das dadurch entstandene flaue Gefühl suchte nach einer Kompensation.
Ein stellvertretendes Opfer sollte dargebracht werden. Da kam das Dreigestirn Fasnacht, Fasching und Karneval gerade recht. An närrischer Einfalt wurde das Exempel statuiert und dem Frohsinn Abstinenz verordnet. Dass bei anderen öffentlichen Anlässen mächtig gefeiert wurde, steht woanders. Die verblasene Fasnacht war hochprozentig scheinheilig.
Das Jahr 1991 hat sich tief in die Chroniken eingegraben. Die Zünfte haben daraus gelernt. In den 90er Jahren rückte der Krieg näher an die Bundesrepublik heran; die Gewalt im zerfallenden Jugoslawien beschäftigte die Europäer, die Bundeswehr griff erstmals in ihrer Geschichte mit Luftschlägen ein. Die Fasnacht fand dennoch statt. Würde man sie vom Frieden aller Nationen abhängig machen, dann hätte Fasnacht echten Seltenheitswert.
1991 ist ein Lehrstück, wenn auch aus einer anderen Zeit. Die Fasnacht hat Mitbewerber bekommen. Der öffentliche Frohsinn heißt heute Party und hat sich fast ganzjährig etabliert. Inzwischen hat sich das Public Viewing für Sportveranstaltungen durchgesetzt, mindestens so elektrisierend wie ein Umzug. Auch dort schminken und verkleiden sich die Teilnehmer, manche verkleiden sich für 90 Minuten als Patrioten und entdecken die Schönheit der Nationalhymne. Wäre eine Absage denkbar? Nur im Härtefall.
Wer steht auf der Ehrentribüne?
Auch 2016 wird eine Fasnacht mit anderen Vorzeichen erwartet. Die Sicherheit treibt die Verantwortlichen um. Während die Akteure an ausgefallenen Verkleidungen basteln, zerbrechen sich die Elferräte die Köpfe, wie sie die anspruchsvollen Vorschriften für Umzüge umsetzen. Natürlich will man jedes Schlupfloch stopfen, das am Anfang eines Unfalls stehen kann.
Inzwischen freilich ist der Aufwand für viele Vereine kaum mehr zu leisten. Die politischen Lippenbekenntnisse zum Brauchtum sind das eine – wer zeigt sich nicht gerne auf der Ehrentribüne am Rande eines Umzugs? Auf einem anderen Blatt steht der enorme Aufwand, der inzwischen betrieben werden muss.
Narrentreffen sind für die gastgebende Zunft nicht nur Ehre, sondern eine schwere Bürde. Die Fasnacht ist Teil der Gesellschaft. Wenn diese verunsichert ist, schlägt es auf das verrückte Treiben durch. Seine Vitalität kann das Brauchtum gerade jetzt unter Beweis stellen. Erstaunlich ist weniger der Gegenwind, sondern dass sich die Masken immer wieder berappeln. Wie Phönix aus der Asche.