Herr Pörksen, welches Schulfach halten Sie zurzeit für überflüssig?
Keines. Es wäre ganz anmaßend, irgendwelche Streich-Vorschläge zu machen.
Sie sehen schon, worauf es hinausläuft – Sie fordern ein neues Schulfach „Medienerziehung“. Will man den Schülern nicht mehr Stunden aufbrummen, müsste ein anderer Inhalt wegfallen. Also welcher?
Sie fragen den Falschen. Wir reagieren auf eine Medienrevolution, die mit der Erfindung der Schrift oder des Buchdrucks vergleichbar ist, visionsarm, floskelhaft, technokratisch und verweigern uns der Wertedebatte, die unbedingt nötig wäre. Wir haben die Bildungsherausforderung der Digitalisierung und der vernetzten Kommunikation noch überhaupt nicht entziffert. Gesellschaft und Politik sind gerade dabei, einen Riesenfehler zu begehen und jede nur einigermaßen ernsthafte Diskussion durch die leblose, blasse Rhetorik der universitären Medienpädagogik oder durch ein sinnloses Kompetenzgerangel abzuwürgen.
Haben Sie da ein Beispiel?
Denken Sie nur an die Debatte über den Digitalpakt – erst redet man endlos nur über Geld, als seien ein paar Tablets und funktionierendes WLAN schon die große Lösung. Dann versandet die Anstrengung, weil der föderalistische Gegeneinander jede gemeinsame konzeptionelle Anstrengung im Ansatz blockiert.
Der pädagogische Grundauftrag – also das Lernziel –Ihres Schulfaches wäre was?
Medienmündigkeit auf der Höhe der digitalen Zeit. Wir müssen anerkennen, dass Öffentlichkeit – verstanden als der geistige Lebensraum einer liberalen Demokratie – heute bedroht ist wie selten zuvor: durch Desinformation, die Fake-News-Schwemme, durch die schärfer werdenden Attacken auf den unabhängigen Journalismus, das Mobbingspektakel, das die Lauten fördert, die leisen Stimmen aber zum Schweigen bringt. Heute ist jeder zum Sender geworden, heute hat jeder eine Stimme – eigentlich eine gute Nachricht. Der Einzelne ist medienmächtig geworden, aber noch nicht medienmündig.
Was ist Ihr Vorschlag?
Die Bildungsvision lautet: Wir müssen von der digitalen Gesellschaft, in der wir heute leben, zur redaktionellen Gesellschaft der Zukunft werden. Hier sind die Prinzipien des guten Journalismus zu einem Element der Allgemeinbildung geworden. Zum Beispiel: „Prüfe erst, publiziere später! Analysiere deine Quellen! Orientiere dich an Relevanz – und mache ein Ereignis nicht größer als es ist! Höre immer auch die andere Seite!“ In der Schule brauchen wir dann Medienpraxis, Medienanalyse, eine Auseinandersetzung mit der Irrtumsanfälligkeit des Menschen und der Verführbarkeit durch Propaganda.
Warum soll diese Art der Erziehung denn nun auch noch über die Schule erfolgen? Ist nicht das Elternhaus gefragt?
Sie haben recht. Es braucht eine gemeinsame Anstrengung. Im vergangenen Jahrhundert hat sich – als Reaktion auf die Ausplünderung des Planeten – das Umweltbewusstsein herausgebildet. Heute brauchen wir eine Art Öffentlichkeitsbewusstsein, um auf die Vermüllung der publizistischen Welt durch Propaganda, Spektakel-News und raffinierte Werbung zu reagieren. Die Bewusstseinsbildung, auf die es ankommt, ist nur im Zusammenspiel möglich: durch das Elternhaus, die Schule, einen möglichst transparenten, dialogorientierten Journalismus.
Der Informationsfluss im Netz ist völlig ungeregelt. Jeder kann und darf fast alles von sich geben. Ist der Versuch eines geregelten Umgangs mit einem Medium, das sich Regelungen komplett entzieht, nicht zum Scheitern verurteilt?
Ich denke nicht, nein. Menschen sind ungeheuer kreativ, anpassungsfähig, innovationsbereit; auch die Medienrevolutionen der Vergangenheit haben uns nicht umgeworfen. Mein Punkt ist nur: Das floskelhafte Gerede über mehr Medienkompetenz muss endlich der konkreten Arbeit weichen. Und dazu braucht es Mut, Gestaltungswillen, einen klaren Wertekompass.
Können Sie ein Beispiel benennen, um den erhofften Nutzen einer schulischen Medienerziehung aufzuzeigen?
Gern. Wir wissen: 50 Prozent der Menschen beachten eine Quelle überhaupt nicht. Und im Netz fließen Informationen sehr unterschiedlicher Qualität relativ unterschiedslos zusammen. Und wir wissen auch, dass Menschen eine Quelle schneller wieder vergessen als die eigentlichen Inhalte. Das heißt, Nonsens bleibt länger im Gedächtnis als der Hinweis auf die zweifelhafte Herkunft der Information. Das ist der Schläfereffekt Propaganda. Hier muss man ansetzen – und Quellenbewusstsein trainieren.
Müsste man nicht eigentlich zuerst die Erzieher erziehen? Also Eltern und Lehrer, die oft selbst überfordert sind mit der Bewertung von Informationen?
Ein guter Punkt. Medienmündigkeit geht jeden an. Und selbstverständlich müssen Lehramtsstudierende heute anders geschult werden. Oft fehlt ihnen, das belegen aktuelle Studien, basales Medienwissen.
Was glauben Sie – lassen sich Menschen im Fake-News-Zeitalter überhaupt noch vom Wert der Wahrheit überzeugen?
Man wird nicht jeden überzeugen können. Aber es geht um den Versuch, das fortwährende Werben um Rationalität und Respekt. Denn was wäre die Alternative? Bevormundung? Ein Ministerium gegen Desinformation? Wissenstests für Wähler, wie kürzlich ein Wissenschaftler im Ernst vorgeschlagen hat? Das erscheint mir ganz falsch, weil eine Demokratie von der Freiheit des Einzelnen und der Idee der Mündigkeit lebt. Aber wir brauchen als Gesellschaft eben auch ein Minimum an gemeinsam akzeptierten Wahrheiten als Gesprächsgrundlage. Und die Vermischung von Fakten und Meinungen, die beispielsweise ein amerikanischer Präsident zeigt, ist eine Gefahr für den sinnvollen Streit.
Würden Sie lieber in einer Welt ohne Internet leben?
Unter gar keinen Umständen, auch wenn ich gesellschaftliche Versäumnisse beklage. Ich profitiere als Wissenschaftler an jedem einzelnen Tag von dem Informationsreichtum, der leichten Zugänglichkeit von Quellen, der raschen, kostengünstigen Information, der blitzschnellen Kommunikation. Und wann hat man lebensgeschichtlich schon einmal das Glück zum Zeugen einer radikalen Umwälzung zu werden, die sich im eigenen Spezialgebiet ereignet?
Jede Neuerung im Bereich der Information – vom Buchdruck über das Telefon – hat massive gesellschaftliche Umwälzungen ausgelöst. Was, glauben Sie, wird das Internet für unsere Gesellschaft bedeuten – Fluch oder Segen?
Die Segnungen einer Kommunikationsrevolution sind nie gerecht und gleichmäßig verteilt. Und schon heute erleben wir die Gleichzeitigkeit von Segen und Fluch – die blitzschnelle Entlarvung von entsetzlichem Unrecht auf der Weltbühne des Netzes und die neue Macht der Desinformation, die Ausbeutung und Überwachung von Menschen. Vielleicht wird man unsere Gegenwart einmal als eine Phase der mentalen Pubertät im Umgang mit den neuen Medienmöglichkeiten belächeln – auf dem Weg zu einer anderen Reife, einem Mehr an Respekt und Kommunikationsfähigkeit. Das wäre zumindest meine Hoffnung. Und daran müssen wir arbeiten.
Fragen: Ulrike Bäuerlein
Zur Person

Bernhard Pörksen (Jahrgang 1969) studierte Germanistik, Journalistik und Biologie und ist Professor für Medienwissenschaft am Institut für Medienwissenschaften der Universität Tübingen. Nach Lehr- und Forschungsstationen in den USA, Hamburg und Münster wurde Pörksen 2007 in Medien- und Kommunikationswissenschaften habilitiert und lehrt seit 2008 in Tübingen. Pörksen sucht auch die Debatte zu medienpolitischen Themen vor allem in der Auseinandersetzung mit Populisten. (bub)
Die Landespolitik widerspricht: „Eigenes Schulfach nicht nötig“
„Wir wissen doch alle – wenn viele zuständig sind, fühlt sich niemand verantwortlich“. Für diesen Satz erhielt der Bildungsforscher Bernhard Pörksen viel zustimmende Lacher und Beifall, als er bei der Podiumsdiskussion zum 20. Jubiläum des SÜDKURIER-Medienprojekts „Klasse!“ mit Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) und SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz diskutierte. Pörksens Vorschlag: ein neues Schulfach Medienerziehung. Mit diesem Vorschlag steht Pörksen allerdings unter den Bildungspolitikern im Land allein auf weiter Flur.
- CDU: „Medienbildung gehört ohne Frage zu den Kompetenzen, die in der Schule beigebracht werden müssen, allerdings bin ich der Meinung, dass wir dafür kein eigenes Schulfach benötigen“, sagt Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU). Medienbildung sei breit im Bildungsplan verankert. Außerdem sprächen praktische Gründe gegen ein weiteres Schulfach. „Schließlich kann der Stundenplan nicht unendlich erweitert werden“, sagt Eisenmann. Die CDU-Landtagsfraktion hält ebenfalls nichts von einem neuen Fach. „Der einzige Bereich der Digitalisierung, der unseres Erachtens nach mit einem eigenen Fach belegt und vermittelt werden muss, ist die Informatik“, sagt deren bildungspolitischer Sprecher Raimund Haser. „Zu glauben, man könne Medien und Digitalisierung in ein Fach packen und damit die Auseinandersetzung mit ihr in anderen Fächern vermeiden, halten wir für einen Irrweg. Medienerziehung ist zu groß, als dass sie in nur einem Fach abgebildet werden könnte.“
- Grüne: Zustimmung erhält die Kultusministerin auch vom Koalitionspartner. Grünen-Bildungspolitikerin Sandra Boser verweist darauf, dass die digitale Bildung in den neuen Bildungsplänen der Schule als fächerübergreifende Leitperspektive angelegt sei. „Der Basiskurs Medienbildung in Klasse 5 und der Aufbaukurs Informatik sind eingeführt, zusätzlich gibt es ab Klasse 8 das Profilfach IMP (Informatik, Mathematik, Physik) und das Wahlfach Informatik“, sagt Boser. Zudem sei die Lehrerbildung neu aufgestellt worden, so dass Medienbildung und der Einsatz von digitalen Medien künftig Bestandteil des Studiums seien.
- FDP: Auch die Liberalen begrüßen, dass Schulen sich inzwischen mit der Vermittlung digitaler Kompetenzen befassen. „Aber die Vermittlung muss die Aufgabe nahezu aller Schulfächer sein“, so Timm Kern, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion. „Nach unserer Überzeugung kann nur so der sichere und kritische Umgang mit digitalen Medien Selbstverständlichkeit werden.“
- SPD: Für die SPD ist zwar Medienerziehung „eine der Schlüsselaufgaben unserer Schulen“, so Bildungsexperte Stefan Fulst-Blei. „Aber nicht jedes Thema ist am besten in Form eines eigenen Unterrichtsfachs aufgehoben und auch die Stundentafel kann nicht unendlich wachsen.“ Fulst-Blei bemängelt, dass die passenden Angebote für Lehrer fehlen. „Hier wird es problematisch, denn durch die massiven Umbaumaßnahmen rund um das sogenannte ‚Qualitätskonzept‘ droht die Fortbildungsstruktur in den nächsten Jahren unter die Räder zu kommen.“
- Gewerkschaft: Diese Befürchtung hat auch die Bildungsgewerkschaft GEW. „Entscheidend ist es, die Lehrkräfte besser zu qualifizieren. Für die Leitperspektiven gibt es kaum Fortbildungsangebote“, bemängelt GEW-Landesgeschäftsführer Matthias Schneider.
- AfD: Die AfD im Landtag dagegen lehnt „eine weitere Verschulung im Bereich der Persönlichkeitsbildung ab“, wie deren bildungspolitischer Sprecher Rainer Balzer sagt. „Für einen guten Umgang mit Medien aller Art ist eine solide Bildung und vor allem ein sicheres Wertegerüst und eine stabile Persönlichkeit die beste Basis.“ Dies könne am besten in der Familie eingeübt werden, aber auch mit Gleichaltrigen in der Schule und im Verein. „Ein eigenes Schulfach ist sicherlich nicht erforderlich“, sagt Balzer. „Nach unserer Einschätzung dient die Schule in erster Linie der Vorbereitung auf das berufliche Leben.“ (bub)
Diese Fake News gingen um die Welt
Müssen Jugendliche sich besser mit Fake News auskennen? Beispiele aus der Vergangenheit legen das nahe. Diese erfundenen Berichte haben reale Folgen gehabt:
- „Minderjährige vergewaltigt, Polizei tatenlos“ – 2016 wird bekannt, dass in Berlin ein 13-jähriges deutsch-russisches Mädchen von Migranten vergewaltigt wird. Der Fall wird als Fall Lisa bekannt. Aber es stellt sich heraus, dass es nie eine Vergewaltigung gab. In Wahrheit hat das Mädchen die Nacht bei einem Freund verbracht. Aufgrund von Schulproblemen habe sie sich laut Staatsanwaltschaft nicht nach Hause getraut. Die Fake News verbreiten auch russische Staatsmedien. Der Fall Lisa ist so also nie passiert – hat aber in den deutsch-russischen Beziehungen viel Schaden angerichtet.
- „Papst schockiert die Welt! Er unterstützt Präsidentschaftskandidat Donald Trump“: Diese Meldung ging im Sommer 2016 viral durch alle sozialen Medien. Angeblich soll Papst Franziskus für den republikanischen US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump sein. Allerdings: Der Papst hat niemals eine solche Erklärung abgegeben oder sich für Trump ausgesprochen.
- „Merkel hofft auf 12 Millionen Einwanderer“: Im März 2017 veröffentlicht die Seite Wochenblick.at diese Nachricht. Es dauert nicht lange, und diese Falschmeldung wird zu einer der erfolgreichsten Fake News im Jahr 2017 – einem Wahljahr in Deutschland. Angela Merkel hat diesen Satz nie gesagt. Die Webseite Wochenblick.at ist eine regionale Wochenzeitung, die zuvor schon wegen Fake News und Verleumdungen aufgefallen war.
- „Legendärer Morgan Freeman ist tot“ – so titelte die amerikanische Webseite Actionnews3.com. Angeblich sollte der US-Schauspieler im Alter von 80 Jahren gestorben sein. Innerhalb von kürzester Zeit verbreitete sich die Nachricht millionenfach auf Facebook. Allerdings ist der Schauspieler quicklebendig. Doch warum veröffentlicht eine Seite so eine leicht nachprüfbare Schocknachricht? Ganz einfach: Um Menschen auf ihre Seite zu ziehen. Das bringt bares Geld ein.
- „Gratis Sex für Asylanten – Landratsamt zahlt!“: Dieses Statement aus dem Jahr 2017 empört sehr viele Menschen. Aber auch diese Nachricht ist komplett frei erfunden. Ursprünglich stammt diese Fake News von der Webseite der-volksbeobachter.de. Dabei handelte es sich um ein Experiment von Wissenschaftlern, die gezielt Falschmeldungen veröffentlich haben. Ihr Fazit: Mit wenig Aufwand lässt sich eine große Reichweite erzielen. (SK)