War das nun eine wichtige Nachricht, eine die am Ende eine Zeitenwende andeutet? Oder doch eine, die man wegen Gehirnmüllvermeidung erst gar nicht zur Kenntnis nehmen will? Jedenfalls: In einer britischen Fernsehshow hat Realitystar Kim Kardashian verkündet, nun sei wirklich mal Schluss mit all den Selbstporträts. Sie wolle mehr Zeit mit dem wahren Leben verbringen, mit ihren Kindern. Und daher, täterätää, „mache ich keine Selfies mehr. Ich mag sie nicht.“
Der prominente Po fällt weg
Für alle, die Kim Kardashian nicht kennen, und damit auch nicht ihren prominenten Po, zur Einordnung nur so viel: Was Selfies betrifft, galt Kardashian im vergangenen Jahrzehnt als die eiserne Knipserin, nach Selbstauskunft mit Tageshöchstwerten von über 1000 Stück. Wenn die nun nicht mehr will? Zeit für eine Bestandsaufnahme. Und ein paar Begriffserklärungen.
Zeit aber erst einmal, um kurz an den Erfinder des Wortes zu erinnern: Ein australischer Student, dessen Identität nie gelüftet wurde, trotz des geposteten Foto seiner beeindruckend zerfetzten Unterlippe. „Ähm, besoffen beim 21. eines Kumpels, bin ich gestolpert und lipplings auf einer Reihe von Stufen gelandet …“, schrieb der Student, Username Hopey, und entschuldigte sich für die Unschärfe: „Aber es war ein Selfie.“
Von Ussies, Relfies, Belfies und Bilfies
Wie die Dinge halt immer so beginnen. Die weitere Geschichte ist bekannt. Aus Witz wurde Wahn, der Selfie-Wahn: Weit mehr als eine Million Selbstporträts fluten mittlerweile täglich die sozialen Netzwerke, ungleich mehr werden gemacht, wobei die Selfies von Instagram-Stars wie Kim Kardashian, Paris Hilton oder Cristiano Ronaldo mit dem ersten von Hopey so viel zu tun haben wie ein getunter Rennbolide mit einem rostigen Kleinwagen.

Der Begriff selbst hat längst Nachkommen gezeugt: Ussie (mit anderen), Relfie (mit dem Liebsten), Belfie (mit Po), Bilfie (im Bikini), Welfie (mit gesunden Sachen) … Hopey aber hat sich nie zur Wort-Erfindung bekannt. Der letzte von ihm notierte Eintrag datiert aus dem Jahr 2003, da kündigte er an, dass er demnächst Physik studieren wolle.
Sechs Stunden wöchentlich für die Selbstinszenierung
Das Selfie hat sich also breitgemacht in der Welt als belächeltes, kritisch beäugtes und mittlerweile auch wissenschaftlich ordentlich vermessenes Zeitgeistphänomen. Symptom für grassierende Selbstverliebtheit? Oder nur die moderne Weiterentwicklung des Selbstporträts? Rembrandt, Dürer, Warhol und jetzt eben ich, ich, ich? Me, my selfie, and I - es frisst auf jeden Fall immer mehr Zeit. Sechs Stunden pro Woche verbringen junge Frauen angeblich mit dieser Art Selbstinszenierung.
Drei Stufen der Selfiekrankheit
Als vor vier Jahren die Nachricht kursierte, die „American Psychiatric Association“ habe die Sucht nach Selbstporträts als psychische Krankheit anerkannt, handelte sich das Ganze noch um einen Scherz. Der aber ermunterte Forscher der Nottingham Trent University und der indischen Thiagarajar School of Management eigene Untersuchungen anzustellen.
Anfang des Jahres stellten sie das Ergebnis vor: Die Selfitis gibt es doch und zwar in drei Abstufungen: Wer mindestens drei Selfies am Tag macht, sie aber nicht postet, leidet unter Borderline-Selfitis. Wer mindestens drei Selfies am Tag macht und jedes davon postet unter akuter Selfitis. Wer sich zwanghaft und rund um die Uhr fotografiert, der hat sich eine chronische Selfitis eingefangen.
In Hamburg gibt's den sElphie-Point
Das Fazit kann demnach nur lauten: Die Gesellschaft ist offenbar ziemlich krank! Dafür aber geht sie mit der neuen Sucht extrem entspannt um: Schafft Plätze, von denen aus man sich am besten vor dem prominenten Hintergrund posiert. Ein sElphie-Point zum Beispiel vor der Hamburger Elbphilharmonie.
Welchen Fachbegriff es mittlerweile übrigens auch noch gibt: Das Selfie-Paradoxon. So nannten Wissenschaftler der Ludwig-Maximilians-Universität München den Umstand, dass zwar die meisten Menschen gerne Selfies machen, die wenigsten sich aber gerne die von anderen ansehen.
Die Selbstdarstellung der anderen
Wenn ich aber doch gelangweilt bin von den Selfies anderer, warum dann eigene machen? Ist doch klar: Weil die besser sind! Die Studienteilnehmer jedenfalls hielten ihre eigenen Selfies für authentischer und selbstironischer als die der anderen. Bei Fremdselfies erkannten sie dagegen meist einen doch unangenehmen Hang zur Selbstdarstellung. Das könnte erklären, so Studienleiterin Sarah Diefenbach, „warum jeder Selfies macht, ohne sich als Narzisst zu fühlen. Wenn die meisten Leute so denken, ist es kein Wunder, dass die Welt voller Selfies ist“.
Man guckt nicht in die Kamera
Was eine andere Studie aber immerhin zu Tage förderte: Likes wünschen sich alle! Anerkennung halt, auf Instagram 1,65 Milliarden Mal täglich vergeben. Den meisten ist es aber eher peinlich, wenn sie beobachtet werden, wie sie ein Selfie machen. Ebenfalls extrem peinlich: wenn Eltern sich in Selbstporträts versuchen. Weil die nämlich die Zeitgeist-Codes nicht kennen und komisch in die Kamera gucken, erklärten Jugendliche bei einer Studie im Auftrag des Industrieverbandes Körperpflege- und Waschmittel. Schaut jemand zum Beispiel noch direkt in die Kamera, braucht man offenbar nach dem Geburtsdatum nicht mehr zu fragen…
42 Prozent mehr Lippenstifte verkauft
Ach Eltern, kennen am Ende noch nicht mal die wichtigsten Selfie-Filter. Augen größer, Nase kleiner, Pickel verdecken, Zähne weißer, vielleicht noch hübsche Häschen-Ohren dazu? Selbst das aber reicht den meisten Mädchen der Generation Selfie, also die 14 und 21-Jährigen auf der Suche nach Selbst- und Selfiefindung, zumindest nicht. Zwar behaupten die meisten, sie würden auch mal ein „ungeschminktes“ Selfie posten. Das aber glauben auch die Macher der Studie nicht: „Die Menge an verwendeter Kosmetik beweist das Gegenteil.“ Das Geschäft mit der dekorativen Kosmetik feiert ein Rekordjahr nach dem anderen. Lippenstifte zum Beispiel … allein zwischen 2011 und 2016 stieg der Markt weltweit um 42 Prozent. Was auch dazu geführt hat, dass Jungs, denen man Bilder von ungeschminkten Mädchen zeigt, mittlerweile davon ausgehen, die Armen seien krank!
Jede Falte wird entdeckt
Die meisten Selbstporträts der Jugendlichen unterliegen einer strengen Selfie-Control und sind demnach so spontan und natürlich wie das vielleicht berühmteste Selfie der letzten Jahre: ordentlich vorbereitet wie eben auch das Oscar-Selfie von Moderatorin Ellen DeGeneres mit Stars. DeGeneres, privat Iphone-Nutzerin, musste sich vor der Sendung erst mit dem dann vorteilhaft platzierten Gerät des Werbepartners Samsung vertraut machen … brach dann aber auch alle Twitterrekorde.
Selfie-Burn-out schrieb übrigens ein Online-Dienst über die Nachricht von Kardashians Rückzug vom Selbstporträt. Die gute Nachricht für Kardashian: Es liegt vermutlich am Alter, nichts Schlimmes also. Sie wird demnächst 38 Jahre alt. Da ist die beste Selfie-Zeit offenbar vorbei. Die neuen Kameras in den Handys gelten als Pest. Zu gut! Sie entdecken Falten, wo der vernebelte Badezimmerspiegel noch gnädig schweigt. Auf Instagram schaffte es kein Bild von ihr unter die top-gelikten des Jahres 2017. „Selfies sind so von gestern“, ließ sie verlauten. Das neueste zeigt sie mit Trägertop und Höschen.
Verzerrte Nasen
Immer mehr Menschen finden ihre Nase zu dick. Meist ist das aber nur ein Fall von verzerrter Selfie-Wahrnehmung. Ein amerikanischer Gesichtschirurg und seine Kollegen haben es mithilfe eines mathematischen Modells ausgerechnet: Wenn man sich aus etwa 30 Zentimenter Entfernung aufnimmt, erscheint die Nase etwa 30 Prozent größer und knolliger als auf einer Porträtaufnahme aus früher üblichen Entfernung. Die Aufklärung ist offenbar wirklich dringend nötig. Mehr als die Hälfte der Patienten wünschen sich eine Nasen-OP, weil sie danach auf Selfies besser aussehen wollen, so ein Umfrageergebnis aus den USA. Das schmale Selfie-Näschen hat demnach Zeug zum nächsten Trend. (swi)