Sie geben einiges von sich preis, täuschen dem anderen aber auch etwas vor: Alexis, der in einem Ratgeber-Blog über sein Dasein klagt, und eine gewisse Melanie beginnen einen E-Mail-Briefwechsel. Sie sprechen über Dates, Profile, Online-Partnerbörse und Internet: „Mein Herz klopft, wenn ich das E-Mail-Fach öffne.“ In Rudolf Bussmanns neuem Roman „Das andere Du“ treten die beiden jungen Menschen im Internet in Beziehung zueinander. Sie haben sich noch nie gesehen und spielen dem anderen falsche Identitäten vor. Sie flunkern und präsentieren sich ihrem Gegenüber undurchschaubar. Eine neue Art von Blindekuh-Spiel.
In dem Roman, den der Basler Autor in der Literaturinitiative Arena im Kellertheater in Riehen vorstellte, werden immer mehr existenzielle Fragen aufgeworfen. Der Roman entwickelt sich von E-Mail zu E-Mail. Das gleicht in gewisser Weise einem Schachspiel. Zwei junge Leute erzählen aus ihrem Leben, beide haben ihre Gründe, nicht die ganze Wahrheit zu sagen, beide wollen jemand sein, der man gerne wäre. Nach dem Motto „So machen’s alle“. Alle geben etwas vor, nur nicht in diesem Extrem wie diese Beiden. Die E-Mail-Konstellation ist ein Verstärker der Wünsche und Träume, die dem anderen vorgegaukelt werden, damit derjenige sie glauben soll. Aber das ist auch eine Art von Situationsbewältigung, ein Ventil, um etwas von Frust und Enttäuschung abzulassen. Die Flunkereien sind bei beiden ein Spiel, wie weit man gehen darf und wie weit der andere es akzeptiert: die E-Mail als selbsttherapeutischer Effekt. Die Frage ist nur: Machen sich Alexis und Melanie etwas vor?
Irgendwann muss der Autor dem Spiel ein Ende setzen, um zur Wahrheit zu kommen. Der Roman arbeitet mit Illusionen und Bussmann wahrt ironische Distanz gegenüber dem allgegenwärtigen Medium Internet. Aber soweit man es bei der Lesung mitbekommt, bleibt es offen, gibt es keine eindeutige Auflösung. Einzig die Altherrensprache stört bei diesem modernen E-Mail-Verkehr der beiden jungen Protagonisten. Manche gewählten Modeworte wirken im ausgetüftelten Briefkontext an der falschen Stelle künstlich wie „Neusprech“. Manchmal muss man sich fragen: Schreiben junge Leute so ihre E-Mails? Klingt das nicht viel eher nach Briefroman à la Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“? Der Autor Bussmann gehört zu einer anderen Generation und spricht eine andere Sprache als die Generation WhatsApp.