Daniela schlabbert. Tierpfleger Emanuel Kocheise hat der betagten Ameisenbärdame ein rohes Ei verkleppert und so geschickt vor die Waage gestellt, dass Daniela draufsteigen muss, um an ihr Lekkerli zu kommen. 56 Kilogramm wiegt die Ameisenbärin heute. Passt. Solange das Tier auf der Platte steht und seinen langen Rüssel in die Ei-Pampe steckt, kann Tierärztin Annika Weigold Daniela in Ruhe untersuchen. Hat sie noch Schmerzen am Rücken? Wie beweglich sind die Hinterbeine? Gibt es Probleme mit den Klauen? Sieht alles gut aus.
Die aus Brasilien stammende Ameisenbärin ist 25 Jahre alt und lebt schon lange in der Stuttgarter Wilhelma. Jetzt geht es ihr wie vielen Menschen im fortgeschrittenen Alter: Die Gelenke tun weh. Daniela humpelt. Die Tierpfleger haben ihr nach Weigolds Rezept Schmerzmedikamente ins Futter gemischt und zuletzt langsam die Dosis reduziert. Das Mittel scheint geholfen zu haben.
Daniela lässt sich ganz entspannt am Rücken anfassen und inspiziert nachher flink und munter die Umgebung der Waage in der Südamerikaabteilung des Zoos. Dann geht es wieder zurück in die Box aufs Stroh. „So ein Ei ist halt auch mal was anderes als immer nur Ameisen“, kommentiert Annika Weigold und lacht.
Annika Weigold arbeitet seit zwölf Jahren in der Wilhelma. Die promovierte Fachtierärztin für Zoo-, Gehege- und Wildtiere ist eine von zwei Tiermedizinern im Stuttgarter Zoo und damit die Frau für alle Felle und Fälle. Sie und ihr Vorgesetzter Tobias Knauf-Witzens sind von Abgottschlange bis Zwergseidenäffchen zuständig für 11.000 Tiere und 1200 Arten.
Die Zootierärzte sind außerdem in Forschungsprojekte der Wilhelma eingebunden, bei Zucht- und Artenschutzprogrammen und dem Bestandsmanagement dabei. Ihr Wort hat bei Direktion und Kuratoren auch bei anderen Fragen Gewicht.
Weigold ist zudem zuständig für das Futtermanagement. Dabei ist schon das medizinische Spektrum – vorsichtig ausgedrückt – vielseitig. Eine Spezialisierung ist angesichts der Artenvielfalt kaum möglich, Improvisationsfähigkeit gefragt. „Man weiß nie alles und muss gut vernetzt sein“, sagt Weigold.
Die Tierärztin freut sich über Tage, an denen zwischendurch ganz unkomplizierte Patienten auf der Liste für einen Hausbesuch stehen. Alpaka Mia zum Beispiel. Sie und ihre beiden Mitbewohnerinnen im Stall sind zutraulich, lassen sich sogar das dichte weiche Fell knuddeln. Mia hat auch nichts dagegen, dass die Tierärztin die wunde Stelle an ihrem Hinterbein mit einem Desinfektionsmittel abtupft und nach ihrem Euter sieht.
Auch die Flachlandtapire kommen neugierig auf Tierärztin Weigold zu. Eine Inspektion von Hufen und Zähnen steht an. Bleibt noch etwas Zeit fürs Kraulen. „Die sind freundlicher als die Schabrackentapire“, sagt Weigold. Nicht nur Hermanek und Radir – Vater und Tochter – scheinen das Treffen zu genießen. Auch Annika Weigold strahlt, wenn die beiden sie mit ihren Rüsseln schubsen.
Doch die Kuschelrunde hat einen ganz praktischen Hintergrund: Durch Körperkontakt gewöhnen Pfleger und Tierärzte die Tiere an den Menschen. Denn Wildtiere – und das bleiben die Zootiere ihr Leben lang – vermeiden es, Krankheiten und Schmerzen zu zeigen, weil sie in freier Wildbahn sonst leichte Beute wären. Nur wenn die Zoobewohner an den Umgang mit den Medizinern gewöhnt sind, können sich Annika Weigold und ihr Kollege tierischen Patienten gefahrlos nähern, ohne sie für eine Untersuchung betäuben zu müssen. Medizinisches Training heißt das im Zoojargon.
Streicheleinheiten machen dennoch den kleinsten Teil der Arbeit eines Zootierarztes aus. In den letzten Tagen etwa machte der Baumphython im Schlangenhaus fiepende Geräusche – für Weigold ein deutlicher Hinweis auf eine Lungeninfektion. „Die Schlange inhaliert jetzt“, sagt Weigold. Aus der Tatsache, dass sich das Tier nicht aus dem Dunstkreis des Verdampfungsgeräts herausbewegt, schließt sie, dass es die Behandlung goutiert.
Ausgerechnet am Weihnachtsmorgen rief der Tierpfleger der Bonobos an: Ein Affe hustet. Die Betreuer der Tiere sind die Ersten, die merken, wenn etwas nicht stimmt. Wie gefährlich eine Erkältung bei Menschenaffen werden kann, weiß Weigold nicht erst seit 2020, als das Bonobojunge Okelo an einer Lungenentzündung starb. Weigold besuchte den Patienten und griff neben Medikamenten auch zu Hausmitteln: „Ich habe ihm Zwiebelsaft und Tee gegeben“, sagt sie. Der kranke Affe wurde isoliert und hat die bittere Medizin klaglos geschluckt.
Im Zoo können auch scheinbar banale Erkrankungen bedrohlich werden. Pfleger arbeiten deshalb nicht im Gehege, wenn sie erkältet sind, im Winter tragen sie meist eine Maske. Auch Schnupfenviren der Besucher können den Tieren gefährlich werden. Die Corona-Pandemie indessen ging an den Affen vorbei. Ein Gorilla hatte Kontakt zum Erreger, wie eine Blutuntersuchung ergab. Gegen Corona geimpft haben die Wilhelma-Tierärzte die Menschenaffen aber nicht. Wohl aber gegen Pneumokokken, um Lungenentzündungen vorzubeugen.

Im Behandlungsraum der medizinischen Abteilung der Wilhelma sieht es nicht viel anders aus als in anderen Arztpraxen: Ein Untersuchungs- und Behandlungstisch, ein digitales Röntgengerät, mobiler Ultraschall. Auch ein Labor schließt sich an – das ist wichtig, um Zoonosen zu diagnostizieren, Krankheiten, und Parasiten, die auch auf Menschen übergehen können. Ins Auge fallen die Blasrohre für die Betäubungspfeile. „Die Studenten müssen üben, damit auf ein Tierbild zu schießen“, sagt Weigold. Die Betäubung per Blasrohr ist kein Spiel, sondern gängige Praxis. Für Notfälle verfügt der Zoo auch über Narkosegewehre und Schusswaffen.
Zootierärzte arbeiten eng mit Spezialisten von außerhalb zusammen. Das sind Pferdekliniken ebenso wie ein Kinderarzt oder Kardiologe bei der Behandlung von Affen. Auch Spezialisten für Tierzahnheilkunde kommen in die Wilhelma.
Als vor einiger Zeit Löwe Sharpur starkes Zahnweh hatte, zog Weigold für die Wurzelbehandlung auch noch einen Menschenzahnarzt hinzu. „Da braucht es dann aber eher eine Bohrmaschine als einen filigranen Bohrer“, sagt die Tierärztin. Jedenfalls kann der Löwe wieder kraftvoll zubeißen. Das wäre in der freien Wildbahn wohl anders ausgegangen. Die gute medizinische Versorgung ist ein Grund dafür, dass Zootiere inzwischen meist älter werden als ihre Kollegen in der freien Wildbahn.
Frau Doktor verschreibt auch oft die Pille. Das gehört zum Bestandsmanagement. Denn zügellos vermehren dürfen sich Zootiere nicht, und Inzucht wäre der Arterhaltung nicht förderlich. Nachwuchs soll es erst geben, wenn geklärt ist, wo die Jungen eine Lebensperspektive haben. „Wer tippt, muss mit dem Hauptgewinn rechnen“, sagt Weigold.
Bei der Wilhelma waren das zuletzt fünf junge Geparden. Bei vielen Tieren reicht es, zur Geburtenkontrolle männliche Tiere von den weiblichen zu trennen. Bei Menschenaffen ist das keine Lösung – deshalb bekommen die Mädels die Pille zur Empfängnisverhütung. Bei den Giraffen verfolgt man einen anderen Ansatz: Dort erhält der Bulle ein Medikament, das die Hoden schrumpfen lässt. Seither lassen ihn die Damen kalt.
Zootierärzte müssen auf der Hut sein. Elefanten, Bären, Giftschlangen, Krokodile: Die Liste potenziell gefährlicher Tiere ist lang. „Meine Finger sind noch alle dran“, sagt Weigold. Als Tierarzt werde man allerdings schon mal geschubst und getreten – und auch gebissen, wenn man einen Moment unvorsichtig ist. Angst kann sich eine Zootierärztin aber nicht leisten, so wenig wie ein persönliches Lieblingstier.
Doch ein Faible für Geparden verhehlt Weigold nicht – das hängt damit zusammen, dass sie nach dem Studium in Hannover während ihrer Doktorarbeit in Namibia an einem Gepardenprojekt des Leibniz-Instituts für Zoo- und Wildtierforschung mitgearbeitet hat. Die flinken Katzen haben es ihr bis heute angetan.