Die Planungen für das neue Rosenstein-Quartier im Herzen der Landeshauptstadt Stuttgart laufen seit Jahren: Rund 5800 dringend gebrauchte neue Wohnungen sollen im nächsten Jahrzehnt genau dort entstehen, wo derzeit noch das Gleisfeld vor dem Stuttgarter Hauptbahnhof liegt.
Die oberirdischen Gleise sollten mit dem neuen Tiefbahnhof Stuttgart 21 überflüssig und abgebaut werden, die Fläche – rund 85 Hektar – hatte die Stadt der Bahn schon vor Jahrzehnten abgekauft. Jetzt bedroht eine Gesetzesänderung das Städtebau-Projekt. Stuttgarts Rathausspitze ist entsetzt, auch der Deutsche Städtetag ist aufgeschreckt und schlägt Alarm.
Dagegen wittern die S-21-Gegner, die für den Erhalt der oberirdischen Gäubahngleise und damit für den Erhalt der Schienen-Direktverbindung vom Hauptbahnhof Stuttgart nach Singen und weiter Richtung Schweiz kämpfen, Morgenluft. Rettet die bereits zum Dezember 2023 wirksame Neufassung des Paragrafen 23 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) des Bundes den Erhalt der Gäubahnanbindung?
Bahn-Experte Matthias Gastel, Grünen-Bundestagsabgeordneter aus Nürtingen bei Stuttgart, erläutert gegenüber unserer Zeitung die Hintergründe. „Entsprechend einer Vereinbarung im Koalitionsvertrag hat der Bundestag eine deutlich höhere Hürde für die Entwidmung von Bahnflächen beschlossen“, so Gastel. Eine sogenannte „Entwidmung“ von einstigen Bahnflächen ist damit nur bei „überragendem öffentlichen Interesse“ möglich. Und kommunale Wohnungsbaupläne zählen nicht dazu.
Der Deutsche Städtetag will nun beim Bund auf eine Aufweichung beziehungsweise eine erneute Gesetzesänderung drängen, wie er Ende Mai in einem Brief an seine Mitglieder mitteilte. Ende Juli fand ein erstes Gespräch zwischen Städtetag und Eisenbahnbundesamt dazu statt.
Der Stuttgarter Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) hatte die Gesetzesänderung im Interview mit unserer Zeitung Anfang August gar als „verfassungswidrig“ und als einen „schwerwiegenden Eingriff in die kommunale Planungshoheit“ bezeichnet, der Bundesgesetzgeber habe sich wohl in einem Zustand „kollektiver legislativer Verirrung“ befunden, polterte das CDU-Stadtoberhaupt.
Gastel indes verweist im Reutlinger Wahlkreis auf ein exemplarisches Beispiel. „Ich bin derzeit in Lichten-stein-Honau, hier befand sich einst die Bahnstrecke zwischen Reutlingen und Engstingen, die Echaztalbahn hinauf auf die Schwäbische Alb“, schildert Gastel.

Eine stillgelegte Strecke, die entwidmet wurde – was nun aber die derzeit geplante Reaktivierung im Rahmen der Regionalstadtbahn Neckar-Alb erheblich erschwert. „Dieses Beispiel zeigt, wie kurzfristig in Bahndingen oftmals gedacht wird. Es werden der Bahn Flächen entzogen, die sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder dringend benötigen würde“, so Gastel. Viel zu viele Strecken, Gleisanschlüsse oder Güterflächen seien der Bahn entzogen, Entwicklungen zugunsten einer leistungsfähigen Bahn würden damit erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht.
„Für Stuttgart bedeutet die neue Rechtslage konkret: Eine Bebauung des Gleisvorfeldes mit Gebäuden würde eine Entwidmung voraussetzen, die nach dem neuen Recht nicht gestattet werden kann“, so Gastel. Er wirbt dafür, für die Gäubahnstrecke zwingend Flächen des Stuttgarter Gleisfeldes zu erhalten.
Denn der Pfaffensteigtunnel, über den die Gäubahn später wieder an den Stuttgarter Hauptbahnhof geführt werden soll, werde zwar in hohem Tempo geplant, sein Bau sei aber aus derzeitiger Sicht und mit dem neuen Haushaltsplanentwurf nicht finanzierbar, glaubt der Grünen-Politiker. Auch weitere Flächen werde man noch brauchen – denn an einer ausreichenden Kapazität des neuen Tiefbahnhofs hat Gastel so seine Zweifel.
Für Stuttgart und die Städtebau-Pläne hat er zwar Verständnis. „Aber leider hatte in den Jahren der Diskussionen um Stuttgart 21 niemand ernsthaft die Interessen der Bahn im Blick und Entwicklungsperspektiven vorgesehen. Vielmehr wurde der Bahnknoten auf Kante genäht, da die Immobilienpläne sehr einseitig Vorrang hatten.“ Jetzt müsse eben geklärt werden, was schon vor 15 oder 20 Jahren nötig gewesen wäre.
Ein Kompromiss?
Für die Stadt müsse das daher kein Aus, könne aber eventuell eine Änderung der Pläne bedeuten. „Ich sehe nicht, dass das gesamte Gleisvorfeld in Stuttgart zusätzlich zum Tiefbahnhof für Bahnnutzungen benötigt wird, sondern ein Teil davon.“ Womöglich könnte Bahn- und Wohnnutzung durch Ausnutzung verschiedener Ebenen auch auf gleicher Fläche erfolgen, so Gastel.
Die Stadt Stuttgart allerdings deutet die Äußerung des Grünen-Politikers als Zeichen, dass im Bund die Problematik des Paragrafen 23 erkannt werde. Man sehe die städtebaulichen Pläne nicht gefährdet, heißt es im Internetauftritt der Stadt, wo man Fragen und Antworten zur neuen Rechtslage zusammengefasst hat. „Eine dauerhafte Blockade der Flächen im Herzen der Landeshauptstadt, ohne eine konkrete Entwicklungsperspektive durch die Bundespolitik, ist nicht rechtens und ein Nutzen ist nicht erkennbar.“