Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger ist Leiter des Instituts für Cyberkriminologie der Hochschule der Polizei des Landes Brandenburg.

Herr Rüdiger, in den vergangenen Jahren haben digitale Straftaten zugenommen. Auch Kinder und Jugendliche sind oft Opfer. Weit verbreitet ist Cybergrooming. Was versteht man darunter?

Ein Täter gibt sich zum Beispiel als minderjährig aus und nimmt mit einem Kind Kontakt auf, etwa in einem Online-Spiel. Er spricht und spielt mit dem Kind über eine gewisse Zeit, macht aber keine sexuellen Andeutungen. Der Täter macht das nur, um Kontakt aufzubauen, später eine Handynummer zu bekommen, um dann sexuellen Inhalt austauschen zu können. Diese nicht sexuelle Vorgehensweise kann bereits strafbar sein.

Cybergrooming ist also das online-basierte Einwirken auf ein Kind mit dem Ziel der Einleitung oder Intensivierung eines sexuellen Kindesmissbrauchs. Das heißt: Es muss online passieren und es muss auf ein Kind eingewirkt werden. Entscheidend ist die Motivation des Täters. Nämlich, dass durch dieses digitale Einwirken später ein sexueller Missbrauch ermöglicht wird. Oft assoziiert man also Cybergrooming mit einem Chat mit sexuellen Inhalten. Die Strafbarkeit selbst kann aber schon früher ansetzen.

Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger ist Cyberkriminologe und Leiter des Instituts für Cyberkriminologie der Hochschule der Polizei in ...
Prof. Dr. Thomas-Gabriel Rüdiger ist Cyberkriminologe und Leiter des Instituts für Cyberkriminologie der Hochschule der Polizei in Brandenburg. | Bild: STEPHAN LIMBERG

Können Sie konkrete Beispiele nennen?

Es gibt einige sehr tragische Fälle. In Österreich stand Ende 2021 ein 57-Jähriger Mann vor Gericht, der sich mittels einer Software als 16-jähriges Mädchen auch in Videos ausgegeben hat. So brachte er mehr als 600 Jungen dazu, sexuelle Handlungen an sich vorzunehmen, und nahm sie dabei auf. Ein solches Vorgehen wäre analog nicht denkbar gewesen, das ist eine Entwicklung des digitalen Zeitalters. Das breite Spektrum der Künstlichen Intelligenz (KI) macht es den Tätern leichter, Zugang zu Kindern zu bekommen.

Künstliche Intelligenz nimmt in der digitalen Welt mehr und mehr Platz ein. Kann KI Cybergrooming beschleunigen?

Absolut, vor allem die Anwenderfreundlichkeit bei Deep-Fake-Technologien bereitet mir Sorgen. Jeder kann sich mit Filtern über sein Smartphone in Bildern und Videos in jedes Alter oder Geschlecht verwandeln – in einer Qualität, die früher kaum erreicht werden konnte. Der Fall aus Österreich zeigt, dass gerade Sexualtäter solche technischen Entwicklungen schnell erfassen und einsetzen. Die Sache ist ja, dass man kaum digital prüfen kann, wer die Person auf der anderen Seite ist, mit der man kommuniziert. Früher war ein Ratschlag, sich unverfängliche Videos senden zu lassen, um zu prüfen, dass es das Gegenüber auch wirklich gibt. Das ergibt heute immer weniger Sinn.

Wäre die Förderung von Medienkompetenz bei Kindern eine Lösung?

Medienkompetenz muss aus meiner Sicht strukturiert und verpflichtend ab der ersten Klasse vermittelt werden, um Kinder auf die gesamte digitale Welt vorbereiten. Die Pandemie wäre eine gute Chance gewesen. Die Chance wurde nicht genutzt. Medienkompetenz selbst wird aber nicht verhindern, dass Kinder mit Cybergrooming konfrontiert werden. Aber: Medienkompetente Kinder werden hoffentlich weniger häufig Opfer und weniger häufig Täter. Außerdem sind diese Kinder die Polizisten, Lehrer und Journalisten von Morgen. Das wäre also eine Investition in unsere gesellschaftliche Zukunft.

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Wie hoch ist das Risiko, Opfer von Cybergrooming zu werden?

Überall da, wo online-basierte Kommunikation stattfindet, kann es Cybergrooming geben. Dieses Risiko besteht für jedes Kind, das im Internet unterwegs ist. Darauf deutet auch die Studienlage hin. Wir unterscheiden zwischen Hellfeld- und Dunkelfeldzahlen. Das Hellfeld umfasst Anzeigen, die den Strafverfolgungsbehörden zur Kenntnis gelangen, und spiegeln sich in der Polizeilichen Kriminalstatistik wider. 2022 hatten wir hier 2878 Anzeigen, das ist wenig. Dunkelfeldstudien deuten auf eine Konfrontationsrate von 15 bis 20 Prozent.

Eine aktuelle Studie hierzu ist von der Landesanstalt für Medien NRW. Hier zeigt sich, dass Kinder in immer jüngeren Jahren betroffen sind. Rund 20 Prozent der acht- und neunjährigen Kinder berichten davon, dass sie von Erwachsenen online nach einem Treffen gefragt wurden. Die Studie hat gezielt nach erwachsenen Tätern gefragt. Das heißt, die eigentliche Konfrontationsrate könnte noch viel höher ausfallen.

Sind mehr Mädchen oder Jungen Opfer von Cybergrooming?

Man muss sich von der Vorstellung lösen, dass nur Mädchen Opfer sind. Im Hellfeld liegt das Verhältnis bei etwa 3:1 von weiblichen zu männlichen Betroffenen. Auch im Dunkelfeld haben wir mehr Mädchen als Opfer. Es kann aber angenommen werden, dass Jungen in Dunkelfeldstudien seltener davon berichten, Opfer geworden zu sein.

Gibt es denn ein Täterprofil?

Man kann im Wesentlichen von zwei Tätertypen sprechen: den hypersexualisierten und den Intimitäts-Täter. Intimitäts-Täter sind vorrangig Männer, denen es um den Vertrauensaufbau zum Kind geht und um eine langfristige sexuelle Missbrauchsbeziehung. Sie treffen sich mit den Kindern, haben teilweise über Jahre Missbrauchsbeziehungen mit ihnen. Das ist meiner Einschätzung nach die seltenste Form, weil sie wenige Opfer gleichzeitig haben können.

Hypersexualisierte Täter wirken hingegen schnell auf eine Vielzahl an Opfer ein. Ihnen geht es darum, schnell etwa Nacktbilder der Kinder zu erhalten, um sie damit zu immer weiteren Handlungen zu erpressen. Manche geben sich als Hacker, Modelscouts oder als einen Gleichaltrigen aus. Diese Täter haben teilweise dreistellige Opferzahlen. Unter diesen Tätern sind viele Gleichaltrige dabei. In der PKS sind knapp 45 Prozent minderjährig. Meine Einschätzung wäre, dass im Dunkelfeld die Quote an minderjährigen Täter noch höher ist. Davon sind etwa 95 Prozent der Tatverdächtigen männlich. Die Mehrheit der Tatverdächtigen ist unter 21 Jahren.

Wie gehen die Täter vor?

Hypersexualisierte Täter wollen an Erpressungsmaterial rankommen, dafür nutzen sie alle denkbaren Mechanismen: Von verschiedenen Accounts anschreiben, Geld bieten oder in Online-Games virtuelle Währung. Ich unterscheide zwischen Kontakt- und Missbrauchsplattformen. In einem Online-Game kann man keine Nacktbilder verschicken. Aber durch das gemeinsame Spielen gelingt ein leichter Vertrauensaufbau. Soziale Medien mit der Funktion Medien zu übersenden wären die Plattformen, auf denen der eigentliche Missbrauch stattfindet.

Tipps für Eltern

„Das Internet wurde eigentlich von Erwachsenen für Erwachsenen gemacht. Die Schutzinteressen von Kindern spielten dabei kein Rolle. Deswegen müssen wir als Gesellschaft die Kinder über die digitale Welt aufklären und sie darauf vorbereiten“, sagt der Experte und gibt Tipps:

  1. Selbst Experten werden: „Ich glaube nicht, dass Eltern authentisch mit Kindern über dieses Thema reden können, wenn sie nicht selbst die Medien aktiv nutzen. Wenn man das Kind mit dem Thema konfrontiert und es antwortet: ‚Mama, in diesem Spiel passiert das nicht‘ und damit ist das erledigt, dann hat man als Eltern gar keine Chance, das zu durchdringen. Wenn das Kind ein Online-Game spielen möchte, rate ich Eltern, sich das Spiel herunterzuladen, zwei Wochen zu zocken und schauen, wie das läuft.“
  2. Ansprechpartner werden: „Eltern müssen mit dem Kind offen über soziale Medien und Online-Games und auch die Risiken dahinter reden. Wenn es Eltern unangenehm ist, mit dem Kind über Nacktbilder zu reden, dann sollte es auch kein Smartphone mit freiem Zugang bekommen.“
  3. Vertrauensperson sein: „Wenn Sie als Eltern entschieden haben, Ihrem Kind ein Smartphone zu geben, dann müssen Sie dem Kind auch vermitteln, dass Sie ihm das nicht wieder wegnehmen. Es gibt Kinder, die sich nicht trauen den Eltern von problematischen Situationen bei der Mediennutzung zu erzählen, aus Angst, dass sie ihnen das Handy wieder wegnehmen könnten.“
  4. Vorbild sein: „Wenn ich als Elternteil mein Kind als Profilbild bei Whatsapp einstelle oder Bilder bei Instagram öffentlich teile, wie soll ich authentisch meinem Kind vermitteln: ‚Schicke keine Bilder von dir an Fremde‘. Die Vorbildfunktion ist also ganz entscheidend dafür, wie das Kind den digitalen Raum nutzt.“