Staatsschulden gelten im politischen Diskurs als etwas Schlechtes. Staaten sollten nicht mehr ausgeben, als sie einnehmen, so die Mehrheitsmeinung. Doch die Konstanzer Geschichtswissenschaftlerin Laura Rischbieter sieht das anders. „Wenn ein Staat ein großes Projekt finanzieren muss, seien es Investitionen in die Infrastruktur oder das Bildungssystem oder aber eine große Sozialreform, muss er in Vorleistung gehen und sich Geld leihen. Von daher sind Staatsschulden nicht per se negativ, sondern unter Umständen legitim“, sagt die Historikerin. Die Konstanzer Juniorprofessorin für Globale Wirtschaftsgeschichte hat soeben ein dreijähriges von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mit 50 000 Euro gefördertes Projekt zum Thema "Schulden machen. Praxeologie der öffentlichen Finanzen im 20. Jahrhundert" gestartet. Dabei sollen die Zusammenhänge zwischen finanzwirtschaftlichem Handeln, institutionellen Strukturen, sozialem Wissen und ökonomischen Effekten untersucht werden. "Das Phänomen des Schuldenmachens soll in seiner ganzen Komplexität und auch Widersprüchlichkeit analysiert werden", heißt es in der Projektbeschreibung.

Der Forschungsansatz von Laura Rischbieter unterscheidet sich dabei von der typischen Herangehensweise eines Wirtschaftswissenschaftlers. „Wir Historiker greifen nicht auf abstrakte Modelle zurück, sondern schauen auf konkrete historische Situation. Dahinter steht die Überlegung, dass jede historische Situation in gewisser Weise einzigartig ist", erklärt Rischbieter. Ökonomen und Politikwissenschaftler versuchten dagegen aus ihren Modellen allgemeingültige Voraussagen für die Zukunft abzuleiten und eine Politikempfehlung abzugeben, so die Konstanzer Historikerin.

Das Thema Staatsschulden hält sie für alt und modern zugleich. „Das Thema Staatsschulden ist so alt wie der moderne Staat“, sagt Rischbieter. Besonders im 20. Jahrhundert habe das Thema an Relevanz gewonnen, weil sich viele Staaten immer höher verschuldet haben. „Vor allem in den 70er-Jahren hat sich Deutschland stark verschuldet, um den Aufbau des Sozialstaats zu finanzieren", sagt sie. Danach habe sich der politische Diskurs etwas gedreht. Das Prinzip der Eigenvorsorge und Selbstverantwortung habe wieder einen höheren Stellenwert bekommen.

Für ungesund hält sie das derzeitige Schuldenniveau nicht zwingend. „Im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt sind die Schulden zwar auf Rekordniveau, aber im Vergleich zu den Staatseinnahmen halten sich die Schulden historisch betrachtet noch im Rahmen“, so ihre Analyse. Zudem gebe es zwischen Staaten und Privatpersonen einen entscheidenden Unterschied. „Staaten können nicht Pleite gehen, da sie immer Einnahmen durch Steuern haben. Das ist für Kreditgeber äußerst interessant.“ Denn so komme der Staat immer wieder an frisches Geld. Von diesem Mechanismus Gebrauch zu machen, sei nicht zwingend falsch. „Staatsschulden ermöglichen, politische Ziele zu verfolgen“, so Rischbieter.

Die Bürger werden Schuldner

Einen großen Unterschied sieht die Geschichtswissenschaftlerin aber zwischen Staatsschulden wie wir sie heute kennen und Staatsschulden in früheren Monarchien. „Die Schulden im modernen Staat sind nicht an den Regenten oder Fürsten gebunden, sondern institutionell verankert. Das gibt den Gläubigern Sicherheit. Denn wenn der Regent stirbt oder abgelöst wird, bleiben die Schulden erhalten. Sie sind Schulden aller Bürger“, sagt Rischbieter.

Vor allem linke Parteien gelten in Deutschland als verschwenderisch. So hält sich hartnäckig die Einschätzung, dass Sozialdemokraten anders als Politiker von CDU oder FDP nicht mit Geld umgehen können. Doch Rischbieter sieht dafür wenig Belege. Schuldenmachen sei kein Privileg der Linken. „Vor allem Regierungen, die extrem rechts oder links stehen, verschulden sich stark. Rechte Parteien neigen zu Aufrüstung, linke Parteien zu hohen Sozialausgaben“, erklärt sie.

Schönreden möchte sie das Schuldenmachen allerdings nicht. „Die gesellschaftlichen Konsequenzen für verschuldete Länder wie Griechenland sind bisweilen dramatisch. Die Kindersterblichkeit steigt an, es entstehen Schwarzmärkte und der Zugang zu Sozialleistungen wird eingeschränkt.“

Das Forschungsprojekt soll bis zum Frühjahr 2021 laufen und beinhaltet sechs Konferenzen zum Thema. Neben Laura Rischbieter sind auch die Historikerin Stefanie Middendorf von der Universität Halle-Wittenberg, eine Expertin der deutschen Haushalts- und Schuldenpolitik, und mehrere Arbeitsgruppen aus Frankreich, Großbritannien und der Schweiz beteiligt. Die Forschungsergebnisse sollen in einer deutschsprachigen Textsammlung zusammengefasst werden.