Frau Schauer, ein 17-jähriger, unbegleiteter Flüchtling aus Afghanistan sticht auf Zugreisende ein. Muss man damit immer und überall rechnen?
Nein. Der Einzelfall ist schwierig zu beurteilen, ich kannte den jungen Mann in Würzburg nicht. Wir haben aber an der Flüchtlingsambulanz der Klinischen Psychologie Untersuchungen gemacht, nach denen ein hoher Prozentsatz der minderjährigen Geflüchteten traumatisiert ist – 30 Prozent der begleiteten und sogar 40 Prozent der unbegleiteten. Es zeigte sich, dass Gewalterfahrungen in Elternhaus im Herkunftsland der beste Hinweis auf spätere Verhaltensprobleme sind, sogar mehr als Krieg oder Schrecken des Fluchtweges, die auch zu späteren Problemen beitragen. Wenn aber ich als Kind erniedrigt, geschlagen oder gedemütigt wurde oder solches Verhalten im direkten, familiären Umfeld beobachtet habe, steigt die Wahrscheinlichkeit späterer Aggressionen.
Viele Flüchtlinge sind in einem Umfeld der Gewalt, des Terrors und des Krieges aufgewachsen. Bereitet Ihnen das Sorgen?
So einfach ist das nicht. Bis es zu einer Tat kommt, spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. Es gibt drei Säulen, die zu einer solchen Konstellation führen können. Erstens die Gewalterlebnisse als Kind in der eigenen Familie, was die Wahrscheinlichkeit, sich der ‘Faszination Gewalt’ zuzuwenden, erhöhen kann. Dazu kommt soziale Ausgrenzung, geringe Anerkennung und Einbindung in die Gruppe, die junge Flüchtlinge bei uns erfahren können.
Die Legitimation kommt in diesem Fall durch die Terrormiliz Islamischer Staat?
Das ist möglich. Ich benötige als Kind oder Jugendlicher moralische Instanzen, Personen, mit denen ich mich identifizieren kann und die den Rahmen setzen. Wenn der IS seine Kämpfer auffordert, Ungläubige anzugreifen und zu töten, dann kann das eine Legitimation für eine Gewalttat sein. Dann sterbe ich als Märtyer. Hier müssen religiöse Führer dagegen votieren. Denn wenn die Tat gerechtfertigt ist, kann die Hemmschwelle herabgesetzt werden. Wobei nicht jeder gewaltbereit ist und natürlich müssen wir nicht davon ausgehen, dass jeder junge Flüchtling eine Denkstörung hat.
Wie sieht die Arbeit mit den jungen Flüchtlingen aus?
Wenn wir rechnerisch davon ausgehen, dass 2015 rund 60000 Kinder und Jugendliche mit traumatischen Belastungen zu uns gekommen sind und wenn wir dieser Zahl den rund 5000 niedergelassenen Kinder-Jugendtherapeuten in Deutschland gegenüberstellen, sehen wir, dass wir chronisch unterversorgt sind. Wir müssen diese Unterversorgung politisch, strukturell angehen. Es muss einen Paradigmenwechsel geben.
Wie lautet Ihr Vorschlag dazu? Was sollten wir tun?
Wir müssten systematische Voruntersuchungen einbauen.
Fragen: Andreas Schuler