Herr Petersen, Sie hatten in Ihrem jüngsten Buch festgestellt, dass die Deutschen ihren Hang zur Panik verloren haben. Ist da nicht eher eine gewisse Resignation feststellbar? Eigentlich schimpfen alle und machen weiter.
Es gibt im Alltag genug Anlässe, sich zu ärgern. Ich könnte Romane erzählen über die Zustände bei der Deutschen Bahn wie jeder andere auch. Was ich meinte, war im Hinblick auf unsere Umfragen über die Jahrzehnte hinweg formuliert. Die Deutschen hatten in den 1970er-, 80er- und auch noch in den 90er-Jahren eine gewisse neurotische Disposition, ein kompliziertes Verhältnis zur eigenen nationalen Identität als Spätfolge des Dritten Reiches. Es gab eine Mischung aus Schuld, wenn auch nicht unbedingt persönlicher, aber in der Nachfolge, und der Angst, etwas Falsches zu sagen. Meine ehemalige Chefin, Elisabeth Noelle-Neumann, und ihre Nachfolgerin Renate Köcher haben in den 1980er-Jahren das Buch „Die verletzte Nation“ geschrieben. Das war damit gemeint. Und eben dies hat sich geändert: Zum ersten Mal seit Jahrhunderten leben die Deutschen über 70 Jahre in Frieden und Wohlstand und kommen nun allmählich innerlich zur Ruhe; das ist eine kollektive Volksdisposition. Natürlich gibt es Ärger im Alltag und im politischen Tagesgeschäft. Und auch der Impfschutz gegen den Nationalismus, den wir jahrzehntelang hatten, wird schwächer; die Folgen davon sehen wir. Aber die Deutschen werden in dieser Hinsicht normaler, ohne dies zu werten, sie werden den Franzosen, Polen, Dänen um uns herum ähnlicher.
2018 liegt ja nun fast hinter uns. US-Präsident Trump rüttelt weiter am Klimaschutz, es gab aufsehenerregende Straftaten von Flüchtlingen und Bundeskanzlerin Angela Merkel hat ihren Rückzug angekündigt. Kann das die Ruhe der Deutschen, von der Sie sprechen, durcheinanderbringen?
Auch ein in sich ruhendes Volk kann tagespolitisch bedingt unruhig sein. Schauen Sie mal nach Großbritannien. Das Land ist in furchtbarem Aufruhr wegen des Brexits, langsam dämmert es den Menschen, dass sie da wahrscheinlich einen ganz furchtbaren Fehler gemacht haben, aber ihre Britishness werden sie nicht verlieren. Tagespolitisch sind sie in Verwirrung, aber da hat niemand Zweifel an der nationalen Identität. Die Deutschen mögen aktuell unruhiger sein als vor fünf Jahren, aber sie sind nicht mehr so grundneurotisch wie früher.
Hinter den Deutschen liegt ja eine sehr lange Phase, in der man nur die Bundeskanzlerin Angela Merkel in Verantwortung kannte. Ist die Neuordnung der CDU jetzt eine Chance für die Partei?
Zunächst ist das ein Zeichen dafür, dass die CDU lebt. Es ist ja ein Luxusproblem, dass man unter drei geeigneten Kandidaten wählen konnte. Denken Sie an die FDP, die mussten 2013 gottfroh sein, dass Christian Lindner auftauchte. Davon unabhängig haben wir eine veränderte Parteienstruktur. Wir haben über Jahrzehnte erlebt, dass die Bindung der Bürger an die Volksparteien schwächer wurde. Gesellschaften ändern sich und damit auch das Parteienspektrum. Das ist an sich nichts Schlechtes, sondern Zeichen einer funktionierenden Demokratie. Wenn Menschen Bedürfnisse und Ziele haben, die von den traditionellen Parteien nicht abgedeckt werden, dann gründen sie neue oder wenden sich neuen zu.
…womit wir bei der AfD wären.
Oder den Piraten. Oder der WASG (Arbeit und Soziale Gerechtigkeit/die Wahlalternative, d. Red.) oder bei der Schill-Partei. Diese Parteien sind für CDU und SPD unerfreulich, weil sie ihre Position schmälern. Aber das alleine ist ja noch keine Gefahr für die Demokratie. Es kann schon sein, dass die CDU irgendwann wieder einmal die 40 Prozent erreicht. Aber ich glaube nicht, dass sie in absehbarer Zukunft in die Nähe der absoluten Mehrheit kommt. Sie muss sich in einer veränderten Gesellschaft zurechtfinden und da ihre Rolle spielen.
Dass die AfD sich so schnell zerlegt, hätte man vor einem Jahr nicht gedacht. Ist das so ein Mechanismus, der sich immer wiederholt?
Neue Parteien verschwinden ja nicht zwangsläufig wieder, denken Sie an die Grünen. Bei der AfD bin ich mir da auch nicht so sicher. In unseren Umfragen sind sie jetzt bei etwa 13 Prozent. Die AfD ist stark geworden mit der Flüchtlingskrise. Nichts hat die Deutschen in den grausamen Konfessionskriegen des 17. Jahrhunderts mehr geeint als der Ruf, dass die Türken vor Wien stehen. So etwas schlägt sich im kollektiven Gedächtnis eines Volkes nieder. Und man darf nicht erwarten, wenn auf einmal eine Million Araber ins Land kommen, dass die Leute dann keine Angst haben. Davon lebt die AfD, sie lebt auch von einer verächtlichen Attitüde gegenüber Politik und Politikern, woran auch die Medien ihren Anteil haben. Ich sehe die AfD bei Weitem nicht am Ende. Das Potenzial der Menschen, die für die Thesen der AfD ansprechbar sind, sehe ich bei etwa 20 Prozent. Im Osten ein bisschen mehr, im Westen ein bisschen weniger.
Was ganz schön viel ist.
Keine Partei schöpft ihr Potenzial völlig aus. Der Kreis der Ansprechbaren liegt bei 20 Prozent. Ich sehe aber auch, dass sich die übrigen 80 Prozent mehr und mehr abgrenzen. Der Anteil derer, die niemals AfD wählen würden, ist in den letzten Jahren gestiegen. Da ist also ein Deckel. Und wenn nichts Außergewöhnliches passiert, wird der auch nicht überschritten.
Wir hatten dieses Jahr ja die Debatte, ob wir uns sozusagen erneut in der Endphase der Weimarer Republik vor der Machtübertragung an Hitler befinden.
Man muss schon aufpassen, ich will das auch nicht alles kleinreden. Aber bis auf Weiteres sehe ich die Grundfesten der Demokratie nicht gefährdet.
In Frankreich sorgen gerade die Gelbwesten für Unruhe. Ist das eine Mentalitätsfrage, dass die Deutschen nicht in dieser Masse auf die Straße gehen?
Ich habe in Frankreich eine gute Freundin, sie ist Politikwissenschaftlerin und Ökonomin und stammt aus dem Umfeld von Alfred Grosser. Isabelle Bourgeois rufe ich immer an, wenn ich Frankreich nicht verstehe. Es stimmt, dort gibt es eine andere Protestkultur, aber sie sagt: Da ist mehr los. Ich zitiere: In Frankreich gibt es einen ganz anderen Kontrast zwischen Stadt und Land und einer abgehobenen politischen Elite und der übrigen Bevölkerung. Wir sprechen in Deutschland zwar auch vom Raumschiff Berlin. Da haben die Leute am Prenzlauer Berg eine U-Bahn-Station vor der Haustür und erklären den Menschen in Hessen, dass sie nicht Auto fahren sollen. Wir haben das Problem also auch, aber in Frankreich hat es ganz andere Dimensionen. Da gibt es diesen Pariser Wasserkopf, auf den alles ausgerichtet ist. Sie können mit dem TGV von Paris nach Lyon fahren. Aber wehe, ich muss 20 Kilometer weiter ins Landesinnere! Da gibt es keinerlei Infrastruktur und auch keine Arbeitsplätze. Aber da leben vier Fünftel der französischen Bevölkerung. Und die sagen: Ihr erhöht uns hier mit moralischen Argumenten die Benzinpreise, und ich weiß nicht mehr, wie ich zur Arbeit kommen soll! Wenn es abgehobene Abgeordnete gibt, dann in Frankreich.
So etwas wäre in Deutschland also nicht denkbar?
Nein, und das sehen wir auch in unseren Umfragen. Jeder Bundestagsabgeordnete hat seinen Wahlkreis. Und damit ihm keiner vorwirft, abgehoben zu sein, taucht er auf jedem Feuerwehrfest auf. Wir fragen ab und zu, ob die Menschen einen Abgeordneten persönlich kennen, und die Zahl der Leute, die das bejaht, hat zugenommen. Interessant ist auch, dass die Leute sagen: Im Allgemeinen sind Politiker dumm und unfähig, aber der ist in Ordnung. In Frankreich gibt es zudem Strukturprobleme und die ganze Elite rekrutiert sich aus speziellen Schulen. Dennoch wäre es de Gaulle nie eingefallen, sich so von der Bevölkerung abzusondern, wie es der aktuelle Präsident Macron tut. Er hatte sein Haus in den Ardennen. Macron hat es offenbar versäumt, den Leuten in der Provinz das Gefühl zu geben, dass er auch zu ihnen gehört.
Haben Sie eine Glaskugel, in der Sie schauen können, was die Deutschen 2019 beschäftigen wird? Wird sich die Flüchtlingsdebatte versachlichen?
Nein, wir haben keine Glaskugel. Demoskopen beobachten und messen, wie sich die Gesellschaft verhält. Wir sind Analytiker, aber keine guten Propheten. Wir neigen dazu, von der Vergangenheit auf die Zukunft zu schließen, aber das geht immer nur eine Zeitlang gut. Was das Thema Flüchtlinge betrifft: Das wird uns lange begleiten. Das Thema liegt knapp unter der Oberfläche und immer nur zwei Sätze entfernt. Es beschäftigt die Menschen, weil es tief im kollektiven Gedächtnis verankerte Ängste geweckt hat. Wir haben nicht nur Integrationsprobleme der Zugewanderten, sondern auch Integrierungsprobleme der Einheimischen. Ein Volk, das – egal ob berechtigt oder unberechtigt – das Gefühl hat, es wird plötzlich von ungeheuer vielen Menschen aus fremden Kulturkreisen überrannt, und man will ihnen auch noch das Recht absprechen, sich darüber zu beklagen, ein solches Volk ist nicht nur verunsichert, sondern auch zu Recht verärgert.
Kann man der Politik da etwas an die Hand geben, wie man besser mit dieser Verärgerung umgeht?
Ich fand den Satz „Wir schaffen das“ von Angela Merkel im Prinzip richtig. Er kam aber verkürzt an als Gesundbeten oder Leugnen des Problems, obwohl das wahrscheinlich gar nicht beabsichtigt war. Richtig wäre es vermutlich gewesen, wenn sie gesagt hätte: „Das ist ein großes Problem, wir verstehen eure Sorgen, das hat auch gestiegene Kriminalität zur Folge, es wird uns lange belasten. Aber wenn wir uns anstrengen, dann werden wir das schaffen. Es ist ein riesiges Problem, das stimmt. Aber auch riesige Probleme sind zu bewältigen.“
Fragen: Beate Schierle
Zur Person
Thomas Petersen, Jahrgang 1968, stammt aus Hamburg. Er studierte Publizistik, Alte Geschichte und Vor- und Frühgeschichte an der Universität Mainz. Er ist Projektleiter am Institut für Demoskopie Allensbach und Privatdozent für Kommunikationswissenschaften an der TU Dresden.
Buchtipp: Thomas Petersen, Tilman Mayer: Ende des Aufruhrs. Wie die Deutschen mit sich selbst Frieden schlossen. Tectum-Verlag, 19,95 Euro.