Marius Müller-Meiningen

Kartenleser und Wahrsager meiden das Licht der Öffentlichkeit. Sie operieren im Halbschatten wie scheue Tiere, gerne auch in den Niederungen des Internets. Sebastiano Salvo ist auch nicht gerade gesprächig, aber ein paar Sätze lässt sich der Kartenleser aus Bologna dann doch abpressen. Er entstamme einer Familie von Wahrsagern und Heilern und habe seine übernatürlichen Fähigkeiten sozusagen geerbt. „In der Nachkriegszeit war es ausgesprochen üblich, sich mit einem Problem an Kartenleser, Heiler oder Magier zu wenden. Sie genossen damals großen Respekt“, sagt Salvo. Das mit dem Respekt hat sich geändert, die Kunden der Hellseher schämen sich heute eher dafür, die Dienste solch dubioser Figuren in Anspruch zu nehmen. Wenn man sich umhört, bei italienischen Verwandten und Bekannten, lautet die Antwort unisono: „Kartenleser? Ich doch nicht!“

Diese nicht repräsentative empirische Erhebung kontrastiert mit Erkenntnissen des italienischen Verbraucherverbandes Codacons. Nach einem aktuellen Bericht stürzen sich die Italiener gegenwärtig geradezu auf Weissager aller Arten. 13 Millionen Italiener suchten regelmäßig Magier, Kartenleser, Hellseher und Astrologen auf. Bei 60 Millionen Landleuten ist das immerhin jeder Fünfte. Seit 2001 ist die Nachfrage damit um drei Millionen Menschen angestiegen, hat der Verbraucherverband in einer Umfrage herausgefunden. Das Geschäft mit der Esoterik boomt in Italien. Acht Milliarden Euro Umsatz soll die Branche insgesamt erwirtschaften. Am italienischen Fiskus geht dieser Segen allerdings komplett vorbei, „fast alle Leistungen werden schwarz erbracht“, heißt es in dem Bericht.

Warum, fragt man sich, erlebt eine Branche, die ihr Kerngeschäft im Okkulten hat und in Italien größtenteils illegal operiert, derzeit eine solche Renaissance? Die Okkultismusforscherin Sabine Doering-Manteuffel, Präsidentin der Universität Augsburg, beobachtete schon vor Jahren eine „stille spirituelle Revolution“ in Europa. Das immer noch sehr katholische Italien ist da offenbar keine Ausnahme. Vor allem hier hat Wirtschaftskrise seit 2008 zu einem Kahlschlag geführt, dessen Effekte immer noch zu spüren sind. „In Zeiten, in denen die reale Welt wenige Sicherheiten bietet, flüchten viele Menschen ins Irrationale und hoffen auf eine Verbesserung der persönlichen, sozialen oder ökonomischen Situation“, sagt Gianluca Di Ascenzo, Präsident von Codacons.

Die Zahl der Anbieter ist seit Beginn der Wirtschaftskrise um das Fünffache gestiegen. Heute werben 155 000 Kartenleser, Magier und sonstige Esoterik-Dienstleister um Kundschaft. 30 000 Hellseher-Dienste sollen täglich zwischen Aostatal und Agrigent erbracht werden, die meisten telefonisch. Dabei sticht nicht etwa der in vielerlei Hinsicht abgehängte italienische Süden heraus, sondern die Wirtschaftsregion Lombardei. Hier suchen die meisten Leute Hilfe im Übernatürlichen. Unbedingt erforderlich bei den Beratungen: die Kreditkarte. Zwischen 50 und 1000 Euro kann eine Zukunftsberatung kosten, oft legt der vermeintliche Hellseher gerade dann auf, wenn es spannend wird. Die verunsicherten Kunden, die dringend Hinweise in den Lebensbereichen Liebe, Beruf oder Geld suchen, rufen dann bald wieder an. „Dieses System nutzt Unwissenheit und Probleme einsamer, hilfsbedürftiger und niedergeschlagener Menschen aus“, sagt Di Ascenzo.

Die katholische Kirche hat im Esoterik-Boom seit langem ein Problem ausgemacht, Hellseher und Kartenleser sind so etwas wie direkte Konkurrenz bei der Bemühung um das Seelenheil. Wer Horoskope und Kartenleser dem Wort Gottes vorziehe, postulierte Papst Franziskus vor Monaten, bewege sich auf den Abgrund zu.