Frau Rilling, als Sie offiziell als neue künstlerische Leiterin der Donaueschinger Musiktage vorgestellt wurden, hieß es, Sie stünden für einen Generationenwechsel, für die künstlerische Eroberung des digitalen Raums, dafür, ein jüngeres Publikum anzusprechen. Das klang so nach Notruf: „Hilfe, die Neue Musik altert – und mit ihr natürlich auch das Publikum“. Ist das denn so?
Ich war erst kürzlich beim Festival Musica in Straßburg und musste feststellen, dass ich da mit meinen 43 Jahren schon zu den Älteren im Publikum gehörte. Gerade die jüngere Generation ist häufig sehr offen für zeitgenössische Musik.
Woran hapert es dann in Donaueschingen?
Ich habe das, was Sie einen Notruf nennen, ja nicht formuliert und würde ihn auch nicht so formulieren. Auch an den Donaueschinger Musiktagen gibt es ein reges Interesse seitens des jüngeren Publikums. Das sehen wir beispielsweise an dem Zuspruch für das Studierendenprogramm „Next Generation.“ Aber natürlich gehört es auch in Hinblick auf das Publikum zu meinen Aufgaben, das Festival in die Zukunft zu führen.
Was tun Sie für das vielbeschworene breitere Publikum, das sich von Neuer Musik bislang noch nicht ansprechen ließ?
Mit ist wichtig, dass die Musiktage nicht nur in Donaueschingen, sondern auch mit den Donaueschingern stattfinden. In Gesprächen habe ich bemerkt, dass es ein Interesse gibt, sich viele aber nicht in die Konzerte „wagen“, weil sie nicht genau wissen, was sie da erwartet. Deswegen haben wir in diesem Jahr den Vorzugpreis von 12 Euro für alle Konzerte für Bürger des Schwarzwald-Baar-Kreises eingeführt. Ich denke, für 12 Euro kann man auch mal ein Wagnis eingehen. Und für die ohnehin kostenlosen Klanginstallationen bieten wir in diesem Jahr auch Führungen an. In den nächsten Jahren werden wir verschiedene weitere Projekte entwickeln, um die Donaueschinger noch stärker miteinzubeziehen.
Es gibt ja immer zwei Möglichkeiten, um das breitere Publikum zu erreichen: entweder man ändert die Präsentationsformen oder man ändert die Inhalte. In diesem Jahr sprechen Sie die Menschen schon mal anders an. Meinen Sie, dass sich auch die Neue Musik selbst ändern und publikumsnäher werden sollte?
Wir sprechen jetzt von „der“ Musik, dabei ist das, was gerade in diesem Jahr bei den Musiktagen geboten wird, extrem unterschiedlich. Die ästhetische Bandbreite ist enorm groß. Wie sie präsentiert und vermittelt wird, da probieren wir durchaus unterschiedliche Ansätze aus.
Das letzte Jahr war inhaltlich noch komplett von ihrem Vorgänger Björn Gottstein geplant. Dieses Jahr wird endlich ein Rilling-Jahrgang…
Nicht ganz. Wir haben noch immer sieben Werke in den Programmen, die noch von meinem Vorgänger in Auftrag gegeben worden sind. Das ist noch dem Umstand geschuldet, dass das Festival 2020 wegen Covid kurzfristig abgesagt werden musste und einige Werke, die damals auf dem Programm standen, jetzt erst uraufgeführt werden. Andere Werke, die für 2022 vorgesehen waren, rutschten dann wegen der Verschiebung ihrerseits weiter. Doch wenn alles gut geht, haben wir in diesem Jahr dann alles aufgeholt. Das war mit auch wichtig, alles, was in Auftrag gegeben war, auch aufzuführen.
Sie stellen die künstlerische Zusammenarbeit, das „kollaborative Arbeiten“ in den Fokus dieses Jahrgangs. Werke werden vorgestellt, die Komponisten, Musiker und eventuell weitere Kunstschaffende gemeinsam erarbeitet haben. Welches Anliegen steckt dahinter?
Zunächst einmal haben kollaborative Prozesse ganz unterschiedlicher Art die zeitgenössische Musik in den letzten Jahren enorm verändert und geprägt. Das reicht im Festivalprogramm vom Kollektiv, in dem alle gleichermaßen komponieren und aufführen, über die Zusammenarbeit von Schriftstellerinnen und Komponistinnen bis zu Composer-Performern. Mein Anliegen war, diese Entwicklungen einmal in den Fokus zu rücken.
Denn die klassische Arbeitsteilung, in der der Komponist erst sein fertiges Werk an die Interpreten zur Aufführung übergibt, spielt heute eine zunehmend geringere Rolle – auch wenn es das natürlich noch immer gibt und weiterhin geben wird. Politisch und gesellschaftlich kommt dem Konzept der Zusammenarbeit in unserer Zeit, die von Spaltung, extremer Polarisierung und starken politischen und sozialen Verschiebungen gekennzeichnet ist, eine zentrale Rolle zu. Wir werden die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, nicht zuletzt den Klimawandelt, nur durch gemeinsame Anstrengungen begegnen können. Ich habe das Programm während Covid angefangen zu planen, als uns die Rolle der Gemeinschaft für das Überleben aller einerseits tagtäglich vorgeführt wurde. Andererseits war die andere Person auch eine Gefahr. Dieses Verhältnis von Individuum und Gesellschaft hat mich während Covid sehr beschäftigt.
Also, dass sich der Mensch als soziales Wesen ausdrückt…
Ja, und, um zur Musik zurückzukommen, es gibt eben unzählige Möglichkeiten, wie das, was wir in einem Konzert oder in einer Installation erleben, entstanden sein kann. Es geht mir dabei auch darum, das noch sehr verbreitete Bild vom Komponisten-Genie einmal zur Seite zu rücken.
Meinen Sie, dass das gelingt? Selbst beim Film, an dem ja auch sehr viele Menschen zusammenarbeiten, ist es letztlich der Regisseur, dessen Name sich mit dem Ergebnis verknüpft.
Beim Film sind das noch mal andere Zusammenhänge. Ich finde interessant, dass Komponisten, die gemeinsam mit Musikern und Musikerinnen ihre Werke entwickelt haben, immer häufiger auch als Autoren-Team genannt werden möchten. Kollaborative Arbeitspraktiken spielen in anderen Künsten – etwa bei Tanz, Performance oder Theater – schon sehr lange eine sehr große Rolle und halten nun eben auch in die zeitgenössische Musik zunehmend Einzug. Und sie bieten andere Möglichkeiten, kreativ zu werden.
2023 wird ein weiblicher Jahrgang: 70 Prozent aller Komponisten und Klangkünstler sind weiblich. Sind Frauen eher bereit für den Collaboration-Gedanken, der ja immer auch bedeutet, einen Teil der Kontrolle über das Werk abzugeben?
Zu dieser These würde ich mich nicht hinreißen lassen. Wir haben auch etliche männliche Komponisten im Programm, die so arbeiten. Ich würde nicht behaupten, dass das heute ein speziell weibliches Arbeitsprinzip ist.
Was ändert sich durch diesen Ansatz für uns Hörende, für das Publikum?
Sehr gute Frage, die sich keinesfalls grundsätzlich beantworten lässt, dazu sind die im Festival präsentierten Ansätze viel zu unterschiedlich. Diese so wichtige wie interessante Frage wird uns durch das Festival begleiten und ich würde sie gerne den Hörenden während und nach dem Festival stellen. In jedem Fall erlaubt dieser Ansatz, ganz andere Stimmen im Festival hörbar werden zu lassen.
Das vermutlich extremste Beispiel für den kollaborativen Ansatz wird die Uraufführung der 91-jährigen Eliane Radigue sein, die ihr Werk ganz ohne Partitur mit den Musikern erarbeitet – und zwar nicht mit einem kleinen Ensemble, sondern mit dem SWR Symphonieorchester. Wie kann man sich einen solchen Prozess vorstellen?
Éliane Radigue war in den 50er/60er Jahren eine Pionierin der elektronischen Musik, hat aber vor rund 20 Jahren beschlossen, nur noch für Instrumente zu komponieren, ohne Elektronik, aber auch ohne Partituren. Das hängt damit zusammen, dass das, was ihre Musik auszeichnet, nämlich ganz subtile Veränderungen, sich gar nicht notieren lässt, aber auch, dass sie sehr stark mit der Akustik der Räume und Instrumente arbeitet und sich das ebenfalls nicht notieren lässt, denn jede Aufführung und jede Probe klingen anders, wenn sie in anderen Räumen stattfinden. Der wichtigste Punkt ist aber, dass diese Musik darauf beruht, dass die Musiker aufeinander hören und aufeinander reagieren, so dass auch dem Musiker eine andere Rolle zukommt als normalerweise.
Eine kreativere Rolle…
Wenn man ein Stück von Radigue aufführen will, musste man bisher zu ihr nach Paris fahren, um es dort mit ihr einzustudieren. Nun konnten wir natürlich nicht das ganze Orchester nach Paris schicken. Radigue selbst ist 91 Jahre alt und darf aus medizinischen Gründen nicht reisen. Sie hat dieses Werk gemeinsam mit der Komponistin und Klarinettistin Carol Robinson komponiert, die die Arbeit mit dem Orchester übernommen hat. Dieses Projekt hat sich in einer Reihe von Schritten entfaltet: Um Radigue präsent zu machen, haben wir zunächst einen kleinen Film für die Orchestermusiker gedreht, in dem Radigue und Robinson erklären, was ihnen in ihrer Musik wichtig ist. Anstelle von Noten hat Robinson den Musikern und Musikerinnen zur Vorbereitung eine Auswahl an Kompositionen von Éliane Radigue gesendet, um sich in diese Musik einzuhören.
Für die genaue Auswahl der Instrumente hatte Robinson in der Baarsporthalle in Donaueschingen die Akustik ausgelotet, um zu schauen, welche Klangspektren funktionieren. Sie hat erst einem kleinen Kreis von fünf Musikern ihre musikalische Arbeitsweise vorgestellt. Letzte Woche begannen dann die Registerproben, bevor das ganze Orchester schließlich zusammenkam.
Und was in dem Werk ist vorgegeben?
Die Struktur, die Länge und was grundsätzlich musikalisch geschieht Die Musik von Radigue und Robinson zeichnet sich durch sehr langsame Klangverläufe auf, arbeitet viel mit Obertönen und konzentriert sich auf ein bestimmtes akustisches Phänomen, die Schwebungen, die an die Stelle von anderen musikalischen Parametern wie Rhythmus oder Melodik getreten sind. Die Komponistinnen verwenden Bilder von Wasser für ihre Stücke: aus der Ferne scheint sich nichts zu bewegen, aber die Wasseroberfläche verändert sich doch ständig und sieht je nach Lichteinfall ganz unterschiedlich aus. Nachdem die Struktur feststeht, wird im Probenprozess gemeinsam entwickelt, wie die musikalischen Details aussehen. Es gibt also einen sehr klaren und engen Rahmen, innerhalb dessen sich die Musiker bewegen. Auch deshalb verwehren sich die beiden Komponistinnen dagegen, es Improvisation zu nennen.
Gibt es denn auch Klangmaterial, mit dem gearbeitet wird?
Ja, aber im Sinne von klanglichen Phänomenen, Prozessen und Spieltechniken. Für die Orchestermusiker ist das natürlich eine große Herausforderung. Denn egal ob Beethoven, Lachenmann oder Ferneyhough – sonst gibt es immer eine Partitur, eine Stimme, die bereit steht und vorab einstudiert wird. Hier ist es ein komplett anderer Prozess, der die sonstige Funktionsweise eines Orchesters unterminiert. Es ist ein großes Glück, dass wir mit dem SWR Symphonieorchester einen Klangkörper haben, der sich darauf einlässt. Denn jeder, der sich nur ein bisschen mit nicht-westlicher Musik auskennt, weiß, dass eine oral tradierte Musik nicht weniger komplex sein muss – die indische klassische Musik etwa ist hochkomplex, und nichts davon ist notiert.
Kann man da überhaupt von einer oralen Tradition sprechen? Darunter stelle ich mir etwas vor, das bereits vorhanden, nur nicht notiert ist und den Musikern dann beigebracht wird. Aber hier sind die Musiker ja selbst kreativ tätig.
Orale Überlieferung wäre die beste Beschreibung. Oral insofern, als es wirklich nur verbal und im Spiel vermittelt wird. Das wirft natürlich neue Fragen auf, weil die Rolle der Musiker eine andere wird. Das Stück steht und fällt damit, wie diese sich auf das Stück einlassen. Dieser Prozess von geteilter Kreativität ist einer, der dem klassischen Geniekonzept komplett entgegenläuft.
Sie sprachen, als Sie sich als neue Leiterin der Musiktage mit Ihren Ideen der Öffentlichkeit vorstellten, von der documenta als kuratorischem Vorbild für die Donaueschinger Musiktage. Was könnte da vorbildhaft sein?
Ich habe die documenta nur erwähnt. Das ist aber bei allen stark hängen geblieben.
Wahrscheinlich weil die documenta wegen antisemitistischer Vorwürfe zuletzt so in den Schlagzeilen war.
Ja, bestimmt, allerdings habe ich sie erwähnt, bevor sie in den Schlagzeilen war. In jedem Fall ging es mir um das Prinzip, dass die documenta zu einem wichtigen Thema die interessantesten Stimmen der Bildende Kunst versammelt. Was die documenta für die Kunst ist, sollte Donaueschingen für die zeitgenössische Musik sein.
Also weg vom Messecharakter hin zu einem stärker kuratierten Festival, das thematisch besser gebündelt ist.
Ja, die Idee ist, dass es jedes Jahr ein Thema gibt, aus dem heraus die Konzerte entwickelt werden, auch wenn es immer welche geben wird, die sich nicht komplett einfügen. Entscheidend für meine Kuratierung ist, verschiedene Stimmen und Positionen zu dieser Thematik zu präsentieren. Ich denke, das wird in diesem Jahr gut sicht- und hörbar, wenn wir unterschiedlichste Formen von künstlerischen Zusammenarbeiten präsentieren.
So haben wir im ersten Konzert des Orchesters vier Kompositionen, die den Musikern und der Partitur unterschiedliche Rollen zuordnen. Wir haben ein Konzert des Kollektivs „Hochstapler“ oder das Projekt des Ensemble Ascolta, in dem jeweils eine Schriftstellerin und eine Komponistin als Duo ihren Weg der Zusammenarbeit entwickelt haben. Und für das erste Konzert des Ensemble Yarn/Wire haben wir drei Protagonisten der New Yorker Improvisationsszene eingeladen, für sich selbst und das Ensemble neue Werke zu komponieren und aufzuführen.
Ihr Vorgänger Björn Gottstein hatte das Jubiläumsjahr 100 Jahre Musiktage in 2021 unter das Motto „Donaueschingen global“ gestellt und einen Schwerpunkt auf den globalen Süden gelegt. Dabei ging es letztlich um die Erweiterung des traditionell eurozentristischen Avantgarde-Blicks. Stichwort Dekolonisierung. Was ist davon in diesem Jahr geblieben?
Das Festival zu dekolonisieren zähle ich auch zu meinen Aufgaben. Dekolonisierung beschränkt sich nicht darauf, wer im Festival eingeladen wird, sondern dazu gehören auch künstlerische Praktiken jenseits der traditionellen europäischen und genau das bildet einen wichtigen Teil der diesjährigen Ausgabe. Das Festival stellt ja kollaborative Praktiken in den Fokus, die sich in vielen Fällen gerade gegen die traditionell hierarchische Arbeitsteilung von Komponieren und Interpretieren richten oder die nicht mit der traditionellen europäischen Partitur arbeiten.
Ein gutes Beispiel dafür ist die Komponistin und Saxophonistin Matana Roberts, deren Hintergrund die AACM Chicagos ist und die ihre musikalischen Erfahrungen ganz unterschiedlicher musikalischer Welten nun in ihre Zusammenarbeit mit dem SWr Symphonieorchester einbringt. Entscheidend ist, dass Dekolonisierung ein integraler Bestandsteil des Festivals ist und kein Sonderprogramm, also normaler Teil des Festivalprogramms ohne Labels, wie zum Beispiel die Performance von Elyse Tabet und Jawad Nawfal, zwei Protagonisten der Beiruter Elektronikszene.